Offener Brief an Bundeskanzler Dr. H. Kohl, Bonn

an Bundeskanzler Dr. H.Kohl, Bonn

Sehr geehrter Herr Bundeskanzler Dr.Helmut Kohl,

angesichts der systematischen, angeordneten Vergewaltigungen im ehemaligen Jugoslawien fordert der „Notruf für vergewaltigte Frauen und Mädchen e.V. Hamburg“ die Bundesregierung nachdrücklich auf, endlich die an Frauen begangenen Verbrechen (Vergewaltigungen, sexuelle Folterungen) als Menschenrechtsverletzungen anzuprangern, sich für die Aufnahme dieser Menschenrechtsverletzung in nationales wie internationales Recht einzusetzen sowie die Weiterentwicklung der hierzu erforderlichen Gerichtsbarkeiten voranzutreiben, die eine Verurteilung der Täter dann auch ermöglichen.

Seit Jahren weisen die „Notrufe für vergewaltigte Frauen und Mädchen“ staatliche Institutionen und in der öffentlichen Auseinandersetzung darauf hin, daß Vergewaltigungen und andere sexuelle Gewalthandlungen gegen Frauen keine irrationalen, spontanen und unkontrollierbaren Taten mangelhafter Triebsteuerung von Männern sind:

–Jede Vergewaltigung ist eine Demonstration von Macht, wobei es sich um bewußte, feindliche und gewalttätige Akte der Demütigung und Inbesitznahme handelt, die einschüchtern und Angst verbreiten sollen.

–Jede Vergewaltigung ist eine bewußte Verletzung der emotionalen, geistigen und körperlichen Integrität der Frau und damit eine Verletzung ihres Menschenrechts.

Im ehemaligen Jugoslawien geschieht zur Zeit genau das, was seit Jahren als spezifisches Muster bei Menschenrechtsverletzungen an Frauen zu erkennen ist (siehe ai Info 1/93): Denn jede Frau, die in einem repressiven Staat bzw. bei militärischen Aktionen der Gewalt eines männlich dominanten Sicherheitsapparates ausgeliefert ist, ist besonders von sexueller Gewalt bedroht.

Die Motive der Täter sind indes klar und unterscheiden sich wenig von denen in Friedenszeiten: Frauen sollen gedemütigt und in ihrer Persönlichkeit gebrochen werden. Im Krieg kommt vorrangig hinzu, daß über die „Schändung“ des männlichen Besitzstandes „Frau“ der Gegner getroffen werden soll. Die Festlegung der Frau als strategisches Kriegsziel zementiert ihren Objektstatus als männliches Eigentum und Gebärmaschine, z.B. für „kleine Tschetniks“. Darin drückt sich die besondere Verachtung des weiblichen Menschen aus: Als eigenständiges Wesen verschwindet die Frau völlig.

Die Bewaffnung von Männern garantiert Frauen keinen Schutz, sie sichert alleine deren Abhängigkeit. Es hat sich allzu oft gezeigt, daß der Beschützer zum Täter werden kann.

Daher fordern wir die Bundesregierung nachdrücklich auf, sich für die Durchsetzung des UN-Embargos gegen die Länder des ehemaligen Jugoslawien einzusetzen und von jeglichen Überlegungen hinsichtlich Waffenlieferungen an welche der Kriegsparteien auch immer sowie von einer Unterstützung einer militärischen Intervention Abstand zu nehmen.

Aus dem bisher Gesagten ergeben sich die zentralen Forderungen des Hamburger „Notfrufs für vergewaltigte Frauen und Mädchen e.V.“, für deren Durchsetzung sich die Bundesregierung auf internationaler und/oder nationaler Ebene einsetzen möge:

–Anerkennung von Vergewaltigungen als Menschenrechtsverletzung, Aufnahme dieser Interpretation in nationales und internationales Recht und Institutionalisierung erforderlicher Gerichtshöfe.

–Benennung einer Sonderberichterstatterin der UNO-Menschenrechtskommission über Menschenrechtsverletzungen an Frauen.

–Anerkennung der besonderen Schutzbedürftigkeit weiblicher Flüchtlinge, inbesondere der wegen ihres Geschlechts verfolgten Frauen, d.h. Aufhebung der Visumspflicht für betroffene Frauen und deren Kinder.

–Ergänzung des Artikel 16 Absatz 2 des Grundgesetzes: „Frauen, die wegen ihres Geschlechts verfolgt werden, genießen politisches Asyl.“

–Garantie der freien Wahlmöglichkeit für Frauen über einen Schwangerschaftsabbruch. Martha Werner,

Jutta Brandewiede, Notruf

für vergewaltigte Frauen und

Mädchen e.V., Hamburg