Den Spatz in der Hand...

■ ...und die Taube auf dem Dach im Visier – Das Kinder-Film- und TV-Festival in Gera

Noch bis morgen, Sonntag, läuft in Gera das Kinder-Film- und Fernsehfestival „Goldener Spatz“. Dieses Erbteil aus DDR-Zeiten wird dem ganzen Deutschland erhalten bleiben. Unter neuer Leitung, mit erneuertem Konzept und getragen von einer am vergangenen Dienstag gegründeten Stiftung soll es auch künftig alle zwei Jahre stattfinden.Kinder, Kinder! Sie schreien und lärmen und lachen, diskutieren und kommentieren die Filmhandlung im dunklen Kinosaal. Volle Hütte im „Palastkino“ um 9 Uhr morgens schon! Es ist Festival-, keine Ferienzeit, wie zu DDR-Zeiten. Ganze große Schulklassen sind da, nutzen mit ihren Lehrern das Angebot, vormittags ins Kino zu gehen; für eine Mark in der Gruppe, einzeln zwei Mark Eintritt (ein gutes Argument bei einer offiziellen Arbeitslosigkeitsrate von 37 Prozent im benachbarten Kreis Altenburg). Und im Kindertreff können die Regisseure und Darsteller auf Tuchfühlung mit neugierigem Publikum gehen. Der niedrige Eintrittspreis ist eines der wenigen noch an DDR-Verhältnisse erinnernden Indizien dafür, daß in Gera eine 1979 gegründete Institution ins neue Staatswesen hinüberwachsen kann. Eine Stiftung „Goldener Spatz“ mit 500.000 Mark Stiftungskapital von ARD, ZDF und der Stadt Gera machen es möglich.Der einstige Anspruch eines DDR-„nationalen“ Kinder-Film-und Fernsehfestivals entpuppte sich als Chimäre, stellte aber für die Zukunft eine Weiche: nationaler Kinderfilm und Kinderfernsehen präsentieren sich gemeinsam, mehr denn je. Kommerzielle Kanäle sind ebenso dabei wie die öffentlich-rechtlichen. Ob die Film- und Fersehmacher, die sich ein Herz für Kinder nicht bloß ans Auto pappen, sich ein mutiges Kinderherz bewahrten und aus ihm heraus weiter Filme und Programme machen für das junge Publikum von heute, wird sich erweisen.Der Kinderfilm in D-Land ist eine schöne Sorge, in den altwestlichen Bundesländern war er es immer, trotz vorhandener Grundstrukturen für Förderung. In den neuen östlichen Ländern geriet der vorher mit Plan geförderte Kinderfilm nach der Vereinigung unter den Hammer der Plattmacher. Keine guten Voraussetzungen. Aber manchmal geschehen noch Wunder! Groß wie nie war das Angebot an deutschen Kinderfilmen heuer, hieß es in der Auswahlkommission. Sie hat 45 Spielfilme und TV-Programme für den Wettbewerb nominiert, aus 150 gesichteten Beiträgen. Aus ihnen kürt morgen die Jury die Sieger in sechs Kategorien. Die ausgewählten Filme und Sendungen sind thematisch stark der Gegenwart und der Realität verpflichtet – mit dem Bewußtsein: Kinder brauchen Märchen und Abenteuer. Und: Das Abenteuer beginnt um die nächste Ecke. Außerdem gibt es ein Informationsprogramm mit weiteren 15 Filmen, fast die ganze deutsche Produktion, dazu sechs Vorpremieren neuer und klassischer Filme in Wiederaufführung.Rolf Losansky, dem Präsidenten des vorigen Festivals 1991, als zukunftsverunsichernder Sturm das Spatzennest schwanken ließ, ist eine Hommage-Filmreihe gewidmet. Im Filmmarkt können auch ausländische Produktionen gesichtet werden. Hinzu kommen etliche offizielle und viele informelle Gesprächsrunden der Experten. Die Grenzen zwischen den Genres sind nicht immer trennscharf. Sie zeigen einfach den überragenden Einfluß des Fernsehens heute. Mitunter leiten sich in Gera daraus überraschende Einsichten ab: „Bitte, wenn eine Pause zwischen den Akten gewünscht wird, damit geteilt werden kann, weil der Film sonst nicht ins Programmschema paßt, dann überlegen wir uns etwas.“ Soweit würden östliche Filmemacher gehen, nähme ihnen das Fernsehen Stoffe ab. Bei Kinderprogrammen im TV ist der Sündenfall Unterbrecherwerbung aus gutem Grund verboten. Im Kino könnte aus ihrer Erfahrung eine Pause mit Filmgesprächen sogar Sinn machen: in einer Eiskauf- und Pipipause würde dann in den Sitzreihen angeregt darüber diskutiert und gemutmaßt werden, wie die Handlung wohl weitergeht.

Fernsehprogramme für Kinder haben sich unablässig vermehrt. Jeder Sender, der auf sich hält, hat Kinderprogrammschienen. Heute erteilt das Fernsehen mehr Aufträge für Kinderfilme und -programme, als für das Kino produziert werden. Es ist die Basis, der Spatz, mit dem in der Hand Junge und Alte unter den Filmern von der Taube auf dem Dach träumen: dem großen Kinoerfolg, einer wie „Kevin allein zu Haus“. Billige Uraltserien und schludrige Comics für die Kids sind die Schattenseite der Entwicklung. Ein kommerzieller Sender wie RTL beginnt mit seinem Kinderprogramm morgens um 5.50 Uhr. Es wird alles versendet, was günstig eingekauft werden kann. Doch auch RTL verzichtet nicht auf Eigenproduziertes und leistet sich den Li-La-Launebär, ein Magazin mit Themen von Advent bis Zukunft. Bloß keine langen Spielfilme, aus dem genannten Grund: Kindersendungen dürfen nicht von Werbung unterbrochen werden. Trotzdem hat RTL die Trägerstiftung „Goldener Spatz“ mitgegründet. Nur mit einem Bein allerdings: sie zahlen nur in dem Jahr, in dem das Festival stattfindet, die anderen – ZDF, MDR, Gera – zahlen dieselbe Summe jährlich.Die angekündigte Fernsehpräsenz Kommerzieller wie RTL und premiere im Hinterkopf, kommt einer beklommen in die ostthüringische Provinzhauptstadt. Er fürchtet, hier würden sich die jungen Zuschauer nun vor den Fernsehmonitoren scharen wie zu Hause vor der Glotze. Aber, welch' angenehme Enttäuschung: Die Kinos sind voll und summen vor Leben, etliche Termine sind im voraus ausverkauft. Und dann ist da die Ernsthaftigkeit der Großen im Festivalzentrum, der Geraer Kultur- und Kongreßhalle an der Straße namens Sorge. Hier laufen die Beiträge der Fernsehkategorien. Hier befindet sich der Filmmarkt für Programmein- und -verkäufer, die Kontaktbörse für Leute mit Ideen, Drehbüchern und Plänen auf der Suche nach denen „mit Herz und Brieftasche“, wie Losansky es ausdrückt.30 Kinder, fast zwei aus jedem Bundesland, formen die Kinderjury. Ausgewählt wurden sie aus vielen phantasievoll geschriebenen und gemalten Bewerbungen. Die Kinderjury vergibt die Hauptpreise der „Goldenen Spatzen“. Das freche Symbolvögelchen erinnert (nur von ferne) an eine gelb gefärbte kindchenschematische Friedenstaube. Daneben verleihen sieben Erwachsene der Fachjury Hauptpreise und einen Sonderpreis. Über 400 auswärtige Fachleute haben sich 1993 angemeldet. In Gera kann noch ohne Hektik miteinander gesprochen werden, das Programm läßt genügend Zwischenräume, das ist anders als bei Großereignissen wie der Berlinale.

Was ist ein Kind? – Schwere Frage. Da ist sich jeder die eigene Gewährsperson. Ein Zustand, über, hinter, zwischen Klein-, Groß- und Stammhirn. Was den guten Kinderfilm ausmacht, liegt die Definition dicht bei der für einen Erwachsenen-Qualitätsfilm: eine Geschichte solle er gut erzählen und die Phantasie anregen.

Der Enthusiasmus der Kinder in Gera hat etwas Ansteckendes: Wer keine eigenen hat, borge sich die Kinder von Freunden und Bekannten aus und schenke ihnen und sich ein Filmabenteuer, anstatt fernzusehen. Til Radevagen