Kein Herbst für einen Engel

Auszug aus einem Roman von Jewhen Paschkowsky  ■ 

Bis im bitteren April die Nebel ätzen wie Wermutsud, lädt die Stadt dich zum Überwintern: jemand hatte eine Wohnung im dritten Stock vorgeschlagen, die grünen Wände des Eingangs erinnerten an einen schleimigen Ort voller Frösche, ich zahlte die Miete wöchentlich, das Zimmer war eng und kahl, zum Ausgleich benutzte ich einen großen Koffer als Schrank und Tisch gleichzeitig, das Kino um die Ecke war ständig erleuchtet und stand da, als wartete es in einer Schlange auf Schnaps – nach den Vorführungen dachte ich eine Weile auf russisch – der Regisseur näherte sich, alles an ihm enthüllte die unchristliche Erscheinung eines Filmkünstlers, die schäbige Firmenuniform, die Mütze auf seinem Kopf, der Schal, der ihm bis zu den Knien hing, die Augen, schläfrig geworden durchs Rauchen; einen Zweitagebart im Gesicht, sah er über die Schulter und trat einen Schritt zurück, damit er sich nicht an der Heizung verbrannte, dann rief er aufgeregt: Geistvolle Rede, Bruder, du bist der geborene Schauspieler! Dann lud er mich ein zur Premiere von jemand anderem und dachte daran, daß er Gläser leeren, verärgert sein würde über die Drehbuchschreiber, die Vorführer, die ganze Gesellschaft, er würde tiefrot werden und schäumen vor Wut hinter der Lampe, so daß alle ihn am Ende verraten würden; eigentlich mochte ich seinen Freundeskreis und seine freien Reden, aber später bedauerte ich doch, daß ich eine so beiläufige Bekanntschaft mit in die Wohnung gebracht hatte, er war einer von denen, die immer unangemeldet vorbeikommen, immer mit einem Riesenkater, immer voller Reue, immer mit Plänen, wie man schnell reich werden würde: laß uns essen gehen, wir verkaufen eine Idee ins Ausland, man wird uns Angebote machen, Dollars, Bruder, und kein dummes Wort, man braucht Kunden für ein Restaurant, der Tisch ist bestellt, also los, laß uns endlich gehen! Er wußte, wie man durch Schmeicheleien ablenkt, wie man flirtet und einer jungen Frau einen unsittlichen Antrag macht, was die Wirtin verblüffte, die versucht hatte, ihn zum Leisesein zu bewegen, da das Baby gerade eingeschlafen war, soll ich Ihnen einen Kaffee kochen? Sie war mit Lob aufgewachsen, das konnte man sehen an dem Kind von einem Schwarzen, Gott hilf mir, mich zu erinnern, Kateryna, so glaube ich, hieß die Wirtin, jedenfalls werden wir sie jetzt so nennen, die Freunde ihres Freundes, das hättest du sehen sollen: jeden Samstag standen drei äthiopische Studenten mit roten Nelken und Rum auf der Schwelle, und während sie da waren, schrie das Kind nicht ein einziges Mal – sie gingen mit Schuhen in das große Zimmer, sie berührten und schwenkten laut klappernde Korallenrasseln über der Wiege, sie flüsterten und erzählten die Geschichte ihres Freundes, der eine Postkarte geschickte hatte, auf der stand, daß es Probleme mit der Hochzeit gab, daß die Familie es verboten hatte und daß ein Kind im Ausland kein ausreichender Grund war, sie schluckten den Rum ziemlich schnell und ohne Zakusky1 herunter und erklärten in ihrer gebrochenen Sprache, daß sie sich allein kümmern müsse, für Milch zu sorgen hätte, dabei wurden hohe Weingläser gefüllt, lachend; sie fragten sie nach dem Mieter, nickten dabei ruhig, hatten es satt zu bügeln, Schwarzes zu polieren, ernst, weil der Direktor des Beerdigungsinstitutes dabei war, verschlossen ihre Lippen, prüften mich mit rachsüchtigem Blick, als hätten sie starrköpfig beschlossen, der ganzen Welt dankbar zu sein für die Sklaverei des weißen Mannes, und ein Salut auf den Samstag: das Kind krabbelte herum, das Gebäude füllte sich wieder mit Kinderweinen, als seien die Kinder bis in die Abenddämmerung in Schluchzen versunken, entkräftet von der Luftfeuchtigkeit, rund um die Scheuerleisten, die Schachtel mit zwei Streichhölzern am Gasherd, den Kochtopf der Mutter mit dem abgebrochenen Griff, den Korbstuhl mit dem Bündel feuchter Wäsche auf der Rückenlehne, die kleine Stofftasche mit getrockneten Pilzen an der Decke, das am Boden verschüttete Salz, den Gasgeruch, den süßlichen Geruch sauer gewordener Milch, das Baby schrie ohne Unterbrechung, als wolle es ein Geschenk seines fernen Vaters erbitten; während ich in der Küche eine Bierflasche auswusch, die toten Spinnen ausschwemmte, wurde mir klar: daß der Verdacht gegenüber den fragwürdigen Freunden des angeblich zukünftigen Mannes täglich größer wurde, bis sie das dumme Mädchen überzeugt hätten, dem Mieter zu kündigen und so wieder etwas aufs Loyalitätskonto zu tun; ob es ein Bordell ist oder nicht, dachte ich, ist ganz egal, es ist jedenfalls ein Zeichen dafür, daß du hier, einfach weil du im Weg bist und Verdacht erregst und hundert arrogante Demütigungen einstecken mußt, gebraucht wirst, hier, im dritten Stock eines Hauses voller Leid im Zentrum der Stadt, wo du hinkamst, um dein Leid der nur phantasierten Rückkehr und der allgemeinen Schlaflosigkeit abzuschütteln, der toten Zeit vor Tschernobyl, aus Lawras Tau2, wo du und meine liebe Tochter strahlten, Liebhaberin arischer Macht, oh Nina; die Stadt konnte seltsamerweise den Fluß der Zeit umkehren oder, besser noch, einen riesigen Brunnen austrinken, bis zum Grund, an dem alles, was geheilt werden kann, angeschwemmt ist, wo das Fegefeuer des Zweifels gefangen ist, wo, dank des Schicksals, eine vage Grenze für Segnungen existiert; es ist hoffnungslos, es hat keinen Sinn, sich da leid zu tun, dir fehlt viel zu sehr die Seele, dort liegt totale Erschöpfung mit einem Kater, mit Pech und falschen Freunden hinter einem Glas, und all das bestärkt das Gefühl des Verlustes, des Wahnsinns, der in den unterirdischen Passagen lauert, im streunenden Lächeln von Vorgartengärtnern, dort, mit Kamillenschüchternheit und der Langeweile angebrannten Kaffees, ewiger buddhistischer Priester, Schnulzensänger, Zigeuner auf der Treppe, eines Akkordeonspielers, der auf einem umgedrehten Eimer sitzt, den ein paar von der Zeitung klatschhaft darum bitten, „Er ist noch nicht gestorben“ zu spielen, während sie mit geschlossenen Augen zuhören und sich fragen, wo sie einen Polizisten finden, und einer von ihnen wirft sogar einen klebrigen, nikotingelben, gefalteten Rubel hin und verschwindet hinter seinen Kollegen her, während der blinde Mann suchend danach greift und die Schachtel mit der Hand bedeckt – ein düsteres Licht erhebt sich über eine Welt ohne Beichte, in vier Säulen aus den vier Himmelsrichtungen.

Ich erinnere mich, daß ich einen Strauß Chrysanthemen zum Geburtstag meiner Wirtin kaufte, sie verstand die schnell vergessene Banalität dieses Fehlers und erklärte, daß ihr Freund sich weigerte, weil auf der Wohnung ein Fluch läge, weshalb das Kind auch so viel schrie, und warum ich dich bat, leise zu sein, weil eine Nachbarin zu Besuch war und ich fürchtete, sie würde dich hören und vielleicht Jack davon erzählen, sie reden sowieso ständig über illegale Untermieter, aber sie ist religiös, jedenfalls wohlwollend, wenn auch verrückt und schlau, sie hat die Sünden von meiner Familie genommen, verstehst du, ich hab' es nie erzählt, meine Mutter, Großmutter und mein Vater starben hier allesamt innerhalb von sechs Monaten, ich hab' darüber geschwiegen, weil ich dachte, du würdest dann weggehen, du bist so freundlich, bringst das Kind zum Schlafen, wenn ich zum Einkaufen bin, ich war hoffnungslos mit kleinen Kindern, Babynahrung, bis du es übernommen hast, das muß ich gestehen – ich saß bei den Nachbarn und trank Kaffee bis mittags, der Kaffeesatz sagte einen schwarzen Liebhaber voraus; ich hörte ihre Gespräche im Flur – voller Unbeholfenheiten, sie hatte die Gewohnheit, sich den linken Fuß mit dem anderen, nackten und dreckigen Fuß zu kratzen und ständig an dem Gürtel ihres langen Morgenmantels zu ziehen, der ledern geworden war durch den ständig auf ihm verschmierten Manna-Haferbrei, als ob ein Dämon ihr die Kleider vom Leib risse, sie zündete sich gern ihre Zigarette am Gas an, so wie Männer es machen, um sich sehr langsam wieder aufzurichten, erstrahlend von einer grauen Leidenschaft für die Stadt, denkend, sie beleuchte die Pfade nächtlicher Schlüpfrigkeit und beiße die Spitze eines roten Schnurrbartes ab; warum behielt sie das Kind zu Hause, anstatt es im Hort zu lassen? Alle ihre Männer mißbilligten das: die Schiffer aus einem Schnapsladen, Installateure, Elektriker, ehemalige Betrüger, Taxifahrer, Bauarbeiter, kräftige Hotelburschen mit starken Händen, die nach Suff und saurem Bier rochen, Lockenköpfe, Zementäugige, unbeschreiblich, sie alle hatten sie mit hingeworfenen Straßenworten verletzt – als junges Mädchen hatte sie ihn bei einem Vorbereitungskursus getroffen und war bereit gewesen, mit ihm auszugehen, nur um ihre Kollegen, eine eingebildete Studentenbande, zu schockieren, er war wie ein äthiopischer Prinz, er versprach, sie wegzuholen, sie in seinem Land zu heiraten, ein Christ, der ein Kreuz aus Sandelholz trug, so kultiviert, unsere Blödmänner hier waren keine Konkurrenz, er schenkte ihr Lippenstifte, kam zum Kursus mit dem Taxi, brachte ihr täglich Blumen mit, auf der Treppe küßte er ihr die Hand – das erzählt sie mir sanft, und ihre Stimme stolpert über die zärtlichen Töne, unbewußt fürchtet sie, das Schicksal zu versuchen, sie würde nie jemandem ein Foto dieses Mannes zeigen, um ja seine Rückkehr nicht zu verhindern, sie drohte dem Kind, das komplizierte Klettermanöver ausführte, mit dem Hausschuh und wiegte es, obwohl es doch erst in den frühen Morgenstunden einschlafen würde, und erklärte dies durch den Biorhythmus des Kindes, der sich nach den Uhrzeiten des Vaters richte; ein übelkeiterregender süßlicher Geruch wie nach fauligem Kürbis verbreitete sich im Zimmer, und kein Lächeln erschien je unter der Stupsnase des winzigen Jungen mit dem melassefarbenen Gesicht, seine Lippen verzogen sich nur zum Weinen, einem trockenen Wort und der Verzweiflung des Verlassenseins – eine Schachtel voller Spiele mit englischer Schrift war in der Ecke zu sehen, und Windeln trockneten auf dem Heizkörper, es war genug, um ahnen zu können, wie sehr die Abwesenheit des Vaters dieses Kind bestrafte – an dem Tag, als sie dies alles erzählte, stellte sie Blumen in die Vase und löste im Blumenwasser eine Vitamintablette auf, sie lud mich zum Fernsehen ein: die vielfarbigen Reflexe an den Wänden, ihre Einladung samt der Bitten, doch den Rum runterzustürzen, und plötzlich schlug mich dieses Leben nieder – was machte ich hier im Weinen einer Fremden, austrinkend, was ihre Kunden ihr gelassen hatten?

[...]

... sie strichen mich aus ihrem Adreßbuch nach den Interviews, den Erklärungen, Unterschriften unter Protokolle, die Wirtin verlor keine Zeit und setzte mir den Koffer vor die Tür, und der Gestank im Flur machte es schwer, etwas zu bedauern, sie sagte, daß die Freunde ihres Mannes ihr gesagt hatten, daß sie allein leben müsse, also verfluch mich nicht, du wirst schon was anderes finden, du bist schließlich nur ein alleinstehender Mann – und sie beugte sich über das Geländer und zeigte mir sanft die Tür.

Nach ein paar Jahren, gewärmt von einer neuen Trennung und einem guten Jahrgang, rief ich alle Freunde vom Bahnhof aus an und finde eine vergessene Telefonnumer auf der letzten Seite meines Adreßbuchs, ich wähle die Nummer, und es ist ihre Stimme, die Wirtin: zuerst wollte sie auflegen, ihr Nachbar beobachtet sie, jeden Schritt den sie tut, eines Nachts hatte das Kind einen Hustenanfall, und sie rief den Doktor, der Doktor sagte, es ist Bronchitis und verschrieb Tabletten, und ich lief zur Apotheke, aber als ich zurückkam, war er schon kalt, ich dachte, ich werde verrückt, sie brachten ihn zu einem Spezialisten zur Untersuchung, aber auch die wußten nichts, vielleicht eine tropische Krankheit, er war nie zur Messe gewesen, wurde begraben ohne Taufe, die Freunde meines Freundes beendeten ihr Studium, holten sich ihre Diplome ab und verschwanden, ohne Gruß, wie man sagt, ich bin jetzt allein, an Wochenenden arbeite ich als Aushilfe, bist du für länger in die Stadt gekommen? bitte, versteh mich nicht falsch, ich habe Angst vor Mietern, aber dich nähme ich selbst ohne Bezahlung, wenn du Milch und Brot mitbringst, oh, da ist schon der Piepton, schmeiß noch zwei Kopeken nach, ich bin pleite, absolut pleite, ein ganzes Jahr war ich in der Psychiatrie, keiner gibt mir Arbeit, keiner will mich in der Rentenversorgung, hast du zwei Kopeken nachgeworfen? komm vorbei, du kannst so lange bleiben, wie du willst, hörst du, zwei Kopeken, ruf mich zurück, bitte – das kurze Telefonsignal echote auf den Stufen jener Treppe; Herr sieh auf mich nieder, gib mir die Kraft zu vergeben, auszuhelfen wenigstens mit einer kleinen Anzahlung, wenigstens mit einem freundlichen Wort – in diesen Städten, die mich alle nacheinander versacken ließen, ist immer alles zu spät; so will es das Schicksal.

Jewhen Paschkowsky ist 1962 geboren. Seit 1989 hat er drei Romane auf ukrainisch veröffentlicht. Der vorliegende Text, eine Übersetzung aus dem Englischen (!), ist ein Auszug aus einem noch unveröffentlichten Roman mit dem Arbeitstitel „Kein Herbst für einen Engel“.

1Zakusky: pikante Knabbereien, die zu alkoholischen Getränken gereicht werden.

2Lawra: ein Kloster, das für seine Höhlen voller Heiligenreliquien bekannt ist; der Tau vor den Ruinen der Klosterkirche ist nach alter ukrainischer Legende zauberkräftig.