Tagebuch eines Kindesmißbrauchs

Auch in linksalternativen Kreisen werden Kinder mißbraucht/ Rat- und Hilflosigkeit bei den betroffenen Müttern/ Wie ein Verdacht für eine Mutter zur Gewißheit wird  ■ Von Ute Scheub

Berlin (taz) – Früher fiel die Diskussion darüber der Tabuisierung zum Opfer, heute ist der sexuelle Mißbrauch von Kindern geradezu zum Modethema geworden. An der realen Machtlosigkeit der Betroffenen hat das jedoch kaum etwas geändert – die Geschichte der dreijährigen Miriam* weist darauf hin. Bezeichnenderweise spielt sie ausschließlich im „aufgeklärten“ linksalternativen Milieu einer norddeutschen Großstadt.

Die alleinerziehende Mutter Beate Lindner* hatte ihre dreijährige Tochter Miriam in einem Kinderladen untergebracht, in dem sie sich mit der gleichaltrigen Hilda* anfreundete. Die beiden Mädchen spielten auch außerhalb des Kinderladens oft und gerne miteinander. Eines schönen Sommertages nahm der Vater von Hilda, der Arzt Dr. Jürgen Teller*, die beiden mit zu einem gemeinsamen Wochenende am See. Am Sonntagnachmittag kehrte Miriam Lindner verstört zurück. „Sie weinte, hielt sich die Hände an die Scheide und klagte, daß ihr die Scheide sehr weh tun würde“, hielt ihre Mutter Beate in Tagebuchnotizen fest, die sie später der taz überließ.

Was weiter mit Miriam geschah, schilderte die Mutter so: „Als sie abends in der Badewanne saß, ich hatte etwas Eichenrinde ins Wasser getan, fragte ich sie, warum ihr die Scheide weh tut. Ich fragte sie, ob sie daran gespielt hat, ob sie sich etwas reingesteckt hätte, oder ob ihr jemand anderes etwas reingesteckt hat. Daraufhin Miriam: ,Jürgen hat mir etwas Kleines in die Scheide gesteckt und dann hat es gepiekt und weh getan.‘“ Sie trug ihre Tochter „zum Bett, um mir anzusehen, ob an der Scheide etwas zu sehen ist, was weh tut. Ich untersuchte sie und stellte fest, daß sie nicht wund war, aber verletzt in der Scheide. Später vor dem Einschlafen wollte ich mir ihre Scheide nochmal ansehen. Sie fand das zunächst in Ordnung. Aber in dem Moment, wo sie auf dem Rücken lag und ich erneut ihre Scheide anfassen wollte, geriet sie völlig außer sich, klemmte die Schenkel zusammen und schrie wie besinnungslos: ,Laß das! Ich will das nicht!‘ und weinte. Ich war total erschrocken und berührte sie nicht weiter... Sie wollte nicht allein einschlafen, auch nicht in meinem Bett, weil sie Angst hatte, daß jemand kommt.“

Über die nächsten Tage notierte ihre Mutter: „Mit Miriam nehme ich mir möglichst viel Zeit und Geduld. Sie pischert fast jede Nacht ins Bett und ist sehr dünnhäutig, weint leicht los, hängt sehr an mir und will immer nur einschlafen, wenn ich bei ihr bleibe. Sie sagt, sie habe Angst vor den Männern.“ Und noch etwas anderes beunruhigte Beate Lindner: „Gehen wir davon aus, daß es stimmt, was Miriam passiert ist, liegt der Verdacht nahe, daß auch Hilda in der Gefahr ist, von ihrem Vater sexuell mißbraucht zu werden.“ Darauf wies auch eine Aussage ihrer Tochter hin, als die Mutter sie erneut vorsichtig auszufragen versuchte: „,Du hast mir erzählt, Jürgen hätte dir etwas in die Scheide gesteckt, was weh getan hat. Was war das denn?‘ Miriam: ,Ja, so kleine Sachen, Puppensachen von den Babies.‘ ,Von welchen Babies? Euren Babies?‘ Miriam: ,Nein, von Hildas Puppe. Etwas Kleines. Und Kaugummi.‘ ,Und Hilda auch?‘ Worauf Miriam entschieden sagte: ,Hilda auch!‘“

Beate Lindner wandte sich an die örtlichen „Notruf“-Frauen und eine Beratungsstelle für mißbrauchte Kinder. Beide Stellen „hatten keine Zweifel, daß Miriam die Wahrheit erzählt hat, und schätzten die Gefahr hoch ein, daß auch Hilda von ihrem Vater mißbraucht werde. Sie rieten mir, sehr vorsichtig zu sein, weil ihre Erfahrungen zeigen, daß die Mütter sich häufig auf die Seite ihres Mannes/ Freundes stellen, selten auf die ihrer Töchter.“ Und tatsächlich: Als Beate Lindner Gisela*, der Mutter von Hilda, von den Schilderungen ihrer Tochter berichtete, lächelte diese nur „und fand es ganz absurd. ,Ach, gerade Jürgen‘, sagte sie. ,Der cremt Hilda noch nicht mal ein, wenn sie etwas an der Scheide hat, weil er weiß, wie schnell man in den Verdacht kommt.‘ Sie fragte nach, „wie denn Hilda reagiert, wenn ihr die Scheide weh tut.“ Die Antwort der Mutter Gisela: „Ach, Hilda läßt mich nie nachgucken, wenn sie was an der Scheide hat. Sie ist ja öfters wund. Aber da ist sie auch ganz eigen und will nicht, daß ich nachsehe.“

Tags darauf schon kam der Arzt Dr. Jürgen Teller und empörte sich über den Verdacht des sexuellen Mißbrauchs: „Jürgen sprach von Suggestion und daß Kinder sensibel gemacht würden für solche Themen bzw. Anschuldigungen. Ich hab ihm noch einmal ausführlich erzählt, was am Sonntag passiert ist, welchen Wortlaut mein Gespräch mit Miriam hatte. Er räumte daraufhin ein, daß er meine Vorgehensweise nicht suggestiv fände, aber er ließ sich nicht weiter auf ein Gespräch ein.“

Beate Lindner ging nochmal zur Beratung: zum Kinderschutzzentrum. Anschließend notierte sie: „Ich habe nach diesem Gespräch nicht den geringsten Zweifel mehr, daß Miriam, so wie sie es erzählt hat, von Jürgen sexuell mißbraucht worden ist. Schockiert hat mich der Hinweis, daß dies sicherlich nicht ein einmaliges Geschehen für sie war.“ Womöglich habe der Täter „auf einer Ebene von Zuneigung und Zärtlichkeit bereits seit Monaten sexuelle Handlungen an Miriam vorgenommen“, die ihr zwar „nicht weh getan, aber sie irritiert haben.“ Im Falle Hildas redeten die Frauen „über die offiziellen Wege, Jugendamt und Polizei. Ich wollte diese aber noch nicht gehen. Ich hoffte auf andere Lösungen als die üblichen repressiven.“

Kurze Zeit danach sprach Beate mit ihrer Tochter erneut über das Thema, diese wiederholte ihre Aussagen. „Ich fragte noch mal nach dem Kaugummi, weil mir keine Erklärung dazu einfiel, und fragte, wie groß er denn gewesen sei. Sie zeigte mir an unserem Nudelholz circa 20 Zentimeter, sagte, daß es weh getan hat und daß Hilda es nicht wollte und ihr geholfen hat, die Sachen wieder aus der Scheide zu holen. Und dann: ,Wir können Jürgen doch kochen. In unserem großen roten Topf. Wir kochen ihn, und dann schmeißen wir ihn weg.‘“ Wenige Tage später kam sie von sich aus auf Jürgen und Hilda zu sprechen. „Sie sagte, daß Jürgen sie nicht anfassen darf. Sie schrie es: ,Du darfst das nicht!‘, dann erzählt sie: ,Hilda sagt, daß wir zusammen sterben müssen.‘ Ich frage: ,Wann? Wenn du was machst? Darfst du etwas nicht sagen?‘ Miriam: ,Nein... Doch. Ja. Ja.‘ Miriam ist verwirrt über Hildas Rolle. Sie sagt, daß auch Hilda ihr etwas in die Scheide gesteckt hat, was sie Kaugummi nennt, und daß Hilda ihr dann auch wieder geholfen hat, das rauszuholen, was Jürgen ihr in die Scheide gesteckt hat. Verdammt, was ist da passiert? Vieles versteh ich nicht.“

Die Auflösung kam einige Tage später: „Gespräch mit den Erzieherinnen von Miriam und Hilda. Als ich von dem ,Kaugummi‘ erzähle, sagte eine: ,Ein Kondom.‘ Eine plausible Erklärung. Eine scheußliche Konkretisierung dessen, was meinem Kind passiert ist, warum bin ich nicht selber darauf gekommen? Ich habe Angst vor den konkreten Einzelheiten.“

Die letzten Zweifel über die Bewertung der Geschehnisse beseitigte das Gespräch mit einem Therapeuten, der Erfahrungen mit gewalttätigen und mißbrauchenden Männer hatte. „Er warnt mich vor Illusionen, was weitere Gespräche mit Jürgen erbringen können. Er sagt aus ihren Erfahrungen: ,Der Täter hat kein Bedauern über das, was er getan hat. Er hat lediglich Angst vor den Folgen, und daß er den Mißbrauch nicht fortsetzen kann.‘ Das traf mich wie ein Schlag vor den Kopf. Immer noch hatte ich auf Einsicht bei Jürgen gesetzt, daß er auch von sich aus etwas tun könne, um die Situation ohne Strafanzeige zu lösen. Statt dessen schickt er einen Brief, in dem er sich zynisch über den ,Mythos der ach so unschuldigen, asexuellen Kindlein‘ ausläßt...“

Beate Linder versuchte, noch einmal mit der Mutter von Hilda zu reden. Das Gespräch war schwierig. Beate Lindner mußte feststellen, daß diese die Theorie ihres Freundes übernommen hatte: „daß Miriam ihn sehr gerne mag, ihn gern als Vater hätte und sexuelle Phantasien entwickelt, um ihm nah zu sein. Daß Miriam Angst vor ihm hatte, daß sie Schmerzen hatte, daß sie ihn eben nicht wollte, sondern zurückstößt, kommt in dieser verbrämten Freud-Rezeption nicht mehr vor.“

Wegen der Strafanzeige ließ sich Beate Lindner von einer Anwältin beraten. Sie erklärte ihr, daß es keine Möglichkeit gäbe, das Kind von einer Befragung als Hauptbelastungszeugin zu verschonen. Der psychische Streß sei immens, die Chance einer Verurteilung des Täters gering. „Ich entschied mich auf diesem Hintergrund“, schrieb die Mutter, „auf eine Anzeige zu verzichten.“

Inzwischen aber hatte Dr. Jürgen Teller selbst ein linkes Anwaltskollektiv eingeschaltet: Sie sollte nicht mehr behaupten dürfen, er habe ihre Tochter mißbraucht. Das Zivilverfahren gegen Beate Lindner als Beklagte hat mittlerweile begonnen.

*Alle Namen, auch in den Zitaten, wurden geändert