Boris Jelzin bleibt Kremlchef

■ Kein Amtsenthebungsverfahren/ Verfassungsrichter bringt Kompromiß ein

Moskau (taz) – Der Sturm um die Macht in Rußland ist abgeflaut. Der eigens zum Sturz Präsident Jelzins einberufene Volksdeputiertenkongreß schreckte gestern vorm Königsmord zurück. Als Vermittler bot der Vorsitzende des Verfassungsgerichts, Valerie Sorkin, den Deputierten einen Zehn-Punkte-Plan zur Beilegung des Machtkampfes zwischen Jelzin und der Legislative an. In seiner Eröffnungsrede hatte Parlamentschef Chasbulatow jedoch noch eine Attacke gegen den Präsidenten gefahren. Wiederholt beschuldigte er ihn, „alle Macht zu monopolisieren“. Doch schon am Vorabend hatte Chasbulatow sein ehrgeiziges Ziel, den Rücktritt Jelzins zu erzwingen, aufgegeben. Ausschlaggebend war, daß Chasbulatow keine Aussicht mehr sah, die dafür erforderliche Zweidrittelmehrheit erringen zu können. Sorkins Schlichtungsangebot sieht Neuwahlen des Parlamentes und des Präsidentenamtes für den 21. November vor. Darüber hinaus empfahl er dem Kongreß, sich selbst aufzulösen. Seine Funktion solle später das neue Zweikammernparlament übernehmen. Um die Rechtsunsicherheit in der Machtverteilung zu beseitigen, schlug er vor, bis zur Annahme einer neuen Verfassung eine entsprechende Veränderung in die derzeit gültige Konstitution einzubringen. Zusätzlich verlangte er, die Arbeit an der neuen Verfassung noch einmal aufzunehmen.

Sorkin schlüpfte in seine alte Rolle des „Gewissens der Nation“ und machte sich zum Schiedsrichter: „Die Versuche beider Seiten, extreme Maßnahmen zu benutzen, könnten zu katastrophalen Konsequenzen führen.“ Dabei war er es, der diesen Konflikt in den letzten Wochen durch seine einseitige Parteinahme für die Legislative mit angeheizt hatte.

Jelzin folgte den Ausführungen im Kongreß mit düsterer Miene. In seiner Rede erklärte er sich später mit den Vorschlägen Sorkins in „weiten Teilen einverstanden“. Er sagte nicht, wo die Differenzen liegen. Betonte aber, er werde auf jeden Fall an seinem Vertrauensreferendum im April festhalten. Sodann forderte er den Kongreß auf, am Referendum teilzunehmen: Bei dem Referendum am 25. April sollte die Bevölkerung auch über den Kongreß abstimmen. Jelzin ist sich seiner Sache sicher. Der Machtkampf hat seiner Popularität im Volke erheblichen Auftrieb gegeben. In einer zweiten Fernsehansprache hatte er am Vorabend die Bevölkerung um ihre Unterstützung gebeten. Die Botschaft war klar. Von der Legislative werde er sich nicht in die Knie zwingen lassen. Die Drohung konnte den Abgeordneten nicht entgehen.

Vor der gestrigen Sitzung hatte sich Jelzin noch einmal bei den Führern der autonomen Republiken und Gebiete rückversichert. Sie stehen den Entwicklungen in Moskau mit starkem Mißtrauen gegenüber, weil sie auch mit Jelzin einen Rückfall in den Zentralismus befürchten. Ob die Kabinettsumbildung zeitgleich mit der Kongreßsitzung ein Zugeständnis an die Legislative war, läßt sich schwer ausmachen. Wirtschaftsminister Netschajew mußte seinen Hut nehmen, wird aber auf einem anderen, weniger exponierten Posten weiterarbeiten. Er war den Gegnern Jelzins lange ein Dorn im Auge. Man warf ihm vor, dem Zerfall der Industrie nicht mit geeigneten Mitteln zu begegnen. Das gleiche Schicksal soll auch noch einen anderen, bisher namentlich nicht genannten, Reformminister ereilt haben. Auf den Sitz des Finanzministers wechselte dagegen der bisherige Chefreformer und stellvertretende Vizepremier Boris Fjodorow.

Der Machtkampf in Moskau ist noch nicht zu Ende. Doch die entscheidende Schlacht ist geschlagen. Jelzin bleibt, aber eine Reihe bekannter Gesichter aus dem gegnerischen Lager wird allmählich von der Bildfläche verschwinden. Die Übergangszeit seit dem Augustputsch klang gestern aus. Klaus-Helge Donath Seiten 8 und 10