Werner ist tot

■ Das leise Leben und Sterben im Bremer Souterrain: Versuch einer Rekonstruktion

Werner ist tot

Das leise Leben und Sterben im Bremer Souterrain: Versuch einer Rekonstruktion

Die hundert Meter von der Halle zum Grab. Erst den Weg entlang, dann ganz unvermittelt quer über den Rasen. Friedhof Huckelriede. Gott sei Dank scheint wenigstens die Sonne.

Ganz hinten, bei den Büschen, ist ein kleines Loch ausgehoben. Vielleicht 70 Zentimeter tief, im Maß dreißig mal vierzig. Die kleine Prozession geht direkt darauf zu. Vorne der Urnenträger, dahinter die drei Bekannten von Werner. Wenn sie den Kopf jetzt senken würden, könnten sie das feine Koordinatensystem sehen, das für die nächsten Erdlöcher mit der Schaufel in die Grasnarbe geritzt ist.

Werner ist tot. Heute ist Beerdigung. Dieter ist da, klar, der hat das Zimmer neben ihm. Und: Werners Freundin. Ihrem Mann hat sie erzählt, daß ein Kegelbruder gestorben ist. Und Frau Michalski ist da, eine Nachbarin. „Gerade hab' ich Werners ganze Wäsche gewaschen, jetzt ist er tot“, sagt sie. Manni ist nicht da. Er hat keinen Urlaub bekommen.

Werner wohnte in der Neustadt, möbliert für 370 Mark warm, Souterrain. 1986 ist er da eingezogen, für dieses Haus hat das schon Ewigkeitscharakter. Eines natürlichen Todes ist er gestorben, mit 52 Jahren.

Das war schon komisch. Erst „Schmieri“, zwei Häuser weiter, dann Werner. Schmieri war 43 Jahre alt. Totgesoffen. Morgens schon Schnaps. Und nichts mehr gegessen. Als sie ihn fanden, am Sonntag, hatte er schon länger in seinem Zimmer gelegen. Bevor er starb hatte er sich noch mit der Hand die Fäden aus der frischen Kopfwunde gepuhlt. „Tote, die über Sonntag liegen, nehmen den nächsten mit“, sagt Frau Michalski. Sie kommt aus Danzig.

Die Prozession ist am Grab angekommen, die Urne wird versenkt. Der Träger geht ein paar Schritte vom Grab zurück, klopft sich vorsichtig den Sand von der Hose, faltet die Hände vor dem Bauch, senkt den Kopf. Keiner sagt etwas, alle stehen da.

Werner ist tot. Dieter hat ihn gefunden, „mit einem Lächeln auf dem Gesicht“, sagt Dieter. „Kein schlechter Tod.“ Werner hat gedacht, daß er die Sauferei im Griff hat. Biertrinker war er, aber wenn er schlecht drauf war, ist er auf Weinbrand-Cola umgestiegen. Das konnte er nicht mehr vertragen. Vor allem nicht mehr nach dem Unfall. Wie lange ist das her? Drei Jahre?

Werner war nach Hamburg gefahren, da sollte er für Geld eine Schwarze heiraten. Mit 1.000 Mark Anzahlung ist er zurückgekommen und hat sich vollaufen lassen. An der Sielwall-Kreuzung ist es dann passiert. Zwischen Triebwagen und Anhänger wollte er mal eben schnell durchklettern. Die Bahn fuhr an und zerquetschte sein linkes Bein knapp über dem Fußgelenk. Die Ärzte haben ihm das Bein bis zum Knie abgenommen, und mit der Hochzeit war natürlich Essig danach.

Als er aus dem Krankenhaus kam, war es schlimm. Mittags schon breit, in seinem Zimmer hat er ‘rumgegrölt, die Miete versoffen, die ganze Arbeitslosenhilfe, 900 Mark, natürlich Weinbrand, der Meyer war kurz davor, ihn an die Luft zu setzen. „Da hab' ich schon gedacht, er kriegt die Kurve nicht mehr“, sagt Manni. Manni hat zum Schluß den besten Kontakt zu Werner gehabt. Ein richtiges Gespann waren die beiden.

Manfred wohnt auch in dem Haus, hatte irgendwann aber eine feste Arbeit, Werner hat dann immer für ihn gekocht, wenn er in der Mittagspause nach Hause kam. Aus der Dose. In der kleinen Küche. Was heißt Küche. Ein fensterloser Raum, gerade zwei Quadratmeter. Zwei elektrische Kochplatten und ein Kühlschrank. Im Sommer saßen die beiden abends im Vorhof und tranken Bier. Und samstags Sportschau geguckt. Wegen Werder. „Jetzt lohnt sich das nicht mehr, mittags nach Hause zu fahren“, erzählt Manni. Werners Tod hat ihn nachdenklich gemacht. „Wer weiß, wenn ich nicht arbeiten würde, wo ich jetzt liegen würde?“

Drei kleine Schaufeln Sand, am Ende nimmt der Urnenträger die große Schüppe und schaufelt das Grab zu. Die nächste Urne wartet schon. Der Urnenträger signalisiert Aufbruch zur Sammelstelle für die Blumen. Namenlose Gräber bleiben ohne Schmuck.

Was Werner nach dem Unfall am meisten geholfen hat: Daß er mit dem Bein wieder hochkam. „Was haben wir auf den eingeredet, daß er anfängt, wieder Fahrrad zu fahren und aktiv zu werden. Man muß sich doch bewegen“, sagt Frau Michalski. Werner hatte Muffe vor einem Sturz. Aber als er sich an seine Beinprothese gewöhnt hatte, ging es aufwärts mit ihm. Erst ließ er die Krücken weg beim Gehen. Die Treppe ins Souterrain nahm er mit dem Hosenboden. Später konnte er dann sogar Fahrrad fahren und war stolz wie Oskar.

Werners Geschichte gibt es nur noch in Fetzen. Volkspolizist war er, Grenzpatrouille an der Mauer, irgendwann ist er dann abgehauen. Gelernt hat er Schlosser, hier im Westen ist er dann als Maschinist zur See gefahren.

„Ich weiß nicht, warum er damit aufgehört hat, darüber hat er nie geredet“, sagt Dieter. Bei Werner kommen wohl alles in allem vier bis fünf Jahre Knast zusammen, Diebstahl. Da wird nicht viel erzählt. Über die Toten nur Gutes. Vielleicht hat er ja im Knast gelernt, so zu leben, wie er die letzten Jahre gelebt hat: In diesem Zimmer, mit den drei Postkarten an der Wand.

Rausgegangen ist er kaum. Früher ja. Tanzen. Seine Freundin wollte tanzen, und Werner war da gar nicht schlecht. Immer am Wochenende ins „Edelweiß“. Und ganz früher ist er mit seinem Kumpel losgezogen. „Weißt Du, der, den sie bei McDonald's erstochen haben“, erzählt Dieter. Nach dem Unfall war nichts mehr mit Tanzen. Die Tage waren zäh in diesem Haus. Insgesamt sieben Jahre hat Werner hier gewohnt, die meisten verlassen es mit den Füßen nach vorne. Heroin, Alkohol, Selbstmord: Werner ist der vierte in vier Jahren.

Schwer 'ranzukommen war an ihn. „Ich hab' ein Jahr gebraucht, bevor wir ein paar Worte gewechselt haben“, erinnert sich Manni. Auch nachher, als sie sich besser kannten, haben sie nicht viel über sich erzählt. Man saß eben so zusammen. Arbeiten? Das hat Werner gemacht. Eine ABM-Stelle hatte er mal, beim Jugendkutterwerk. Ist Jahre her. Im letzten Herbst hat das Arbeitsamt ihm eine sechswöchige Computer- Fortbildung aufgedrückt. Er wollte nicht, weil das ja auch Quatsch war. „Wer nimmt denn einen 52jährigen mit einem Bein?“ sagt Manni. Werner hat sich darüber totgelacht. Aber natürlich mußte er hin, sonst hätt' er keine Arbeitslosenhilfe mehr bekommen. Jetzt kann man's ja sagen: Werner hat sich am dritten Tag einen gelben Schein geholt. „Mir geht's so schlecht mit meinem Bein“, hat er gesagt, und dabei mit den Augen gezwinkert.

Der Urnenträger klopft den Sand von der Schüppe. Dieter hat den Kranz an der Sammelstelle abgelegt. Keine zwei Minuten hat alles gedauert. Frau Michalski ist entrüstet. Den Zehnmarkschein, den sie für den Urnenträger lose in der Jackentasche hatte, nimmt sie wieder mit. „Wenigstens ein Gebet hätte er sprechen können. So eine Beerdigung hat der Werner nicht verdient.“

Markus Daschner