Als Ärztin nur dem Ruf gefolgt zu helfen

■ Eine seit Jahren mit Heroinabhängigen arbeitende Ärztin droht an ihrer grenzenlosen Hilfsbereitschaft und den Richtlinien der Kassenärztlichen Vereinigung zu scheitern

Berlin. Wenn eine Patientin quittengelb in die Praxis kam und um Substituierung mit Polamidon bat, konnte Gisela Schmitz-da Silva sie nicht zurück auf die Straße schicken. Sie brachte es auch nicht fertig, die jugendliche Schwangere abzuweisen oder die zahnlosen Aidskranken und das junge Mädchen, das sich nicht mehr prostituieren wollte. Sie wußte zwar, daß in den Richtlinien für die Substitution nur zehn Patienten pro Arzt zugelassen waren. Am Telefon schickte sie immer wieder Abhängige zu Kollegen. Wenn aber jemand krank und elend in ihrer Praxis ankam, indizierte sie die Ersatzdroge und meldete die Behandlung der Kassenärztlichen Vereinigung (KV).

„Ich bin Ärztin, ich sehe das Elend und fühle mich verpflichtet, zu helfen. Das gebietet mir mein ärztliches Gewissen.“ Seit dem 23.Dezember bezahlt sie das Polamidon für die mittlerweile 30 von ihr betreuten Patienten selbst. Weit über 10.000 Mark kostet sie das im Monat, seit die KV merkte, daß sie keine berufsrechtliche Genehmigung besaß und zu viele Patienten in Behandlung hatte. Daraufhin stellten die Krankenkassen ihre Zahlungen ein. Der Antrag, den sie im September auf Genehmigung gestellt hatte, wurde im Januar von der KV abgelehnt. Grund: ihre Verstöße gegen die Richtlinien. Die bisher von hier behandelten Patienten soll sie abgeben. Die allerdings wollen nicht gehen, obwohl die Ärztin sie dazu aufforderte. „Ich habe schließlich freie Arztwahl, und zu ihr habe ich Vertrauen“, sagt Marita Kunz- Rehmann. Sie sei es leid, daß immer wieder Männer in irgendwelchen Chefetagen darüber verfügten, was gut für sie sei. Nach 20 Jahren Heroinabhängigkeit und zahlreichen Gefängnisaufenthalten sei sie dank vierjähriger Substitution nicht mehr auf der Szene und arbeite bei der Aids-Hilfe.

Gisela Schmitz-da Silva gehört zu den ersten zehn Ärzten, die in Berlin Heroinabhängige mit dem linksdrehenden Methadon substituieren. Schon in ihrer Promotion 1974 beschäftigte sie sich mit ambulanter Therapie Alkoholkranker und bildete sich zum Thema Sucht ständig fort. 1988 kam ein aidskrankes Pärchen in ihre Praxis, das sich schon ein Jahr um die Ersatzdroge bemühte. Die beiden waren die ersten Patienten, die sie substituierte. Eine Genehmigung war damals noch nicht nötig. Erst die 1991 in Kraft tretenden Richtlinien schrieben Methadon-Kommissionen vor, die den substituierenden Ärzten ihre Tätigkeit genehmigen müssen. Seitdem ist auch die Zahl der zu Behandelnden auf zehn pro Arzt begrenzt.

„Dieses Pärchen lebt jetzt ein normales Leben und kann sich um sein Kind kümmern“, so Schmitz-da Silva. Am wichtigsten ist ihr zunächst, daß sich der gesundheitliche Zustand der Patienten bessert und daß sie von der Beschaffungskriminalität wegkommen. Derzeit arbeitet sie mit Professor Friedrich Bschor von der Freien Universität an einer Studie, die die Lebenszeit von Heroinabhängigen und Substituierten vergleicht. „Und es zeigt sich, daß sie mit Polamidon länger leben. Was will ich denn mehr als Ärztin?“

Daß sie das jetzt nicht mehr tun soll, empfindet sie als Zumutung. Als sie die erste Aufforderung, die Genehmigung zu beantragen, bekam, hatte sie gerade ihre Neuköllner Praxis verkauft und in Reinickendorf ein Obdachlosenheim und eine kleinere Praxis eröffnet. Ihre Eltern hatten sich für ein halbes Jahr bei ihr einquartiert, weil ihre Mutter in Berlin am Herzen operiert wurde. Dann starb auch noch der Mann ihrer alten Nachbarin, um die sie sich seitdem kümmert. „Mir wuchs alles über den Kopf.“ Danach schob sie den Antrag immer vor sich her. Sie ist sogar bereit, ein Bußgeld für ihre Versäumnisse an die KV zu zahlen und auch, die Substitution ohne Honorar zu machen. Nur die Kosten für das Polamidon sollten die Krankenkassen übernehmen.

Doch Michael Wurzel von der AOK bleibt eisern. So lange sie ohne Genehmigung der KV arbeitet, läuft bei der AOK nichts. „Wir können im Sinne der Solidargemeinschaft nur vertragsgemäß erbrachte Leistungen bezahlen.“

Auch der Vorsitzende der Methadon-Kommission, Jörg Gölz, hat wenig Verständnis für seine Kollegin. „Ihr Fehlverhalten ist eigentlich nicht mehr zu übertreffen“, meint er. Die Kommission wollte sie anfänglich durchaus zulassen und hat seit Januar 1992 ständig Mahnungen geschrieben. Von Frau Schmitz-da Silva kam nie eine Antwort. Ein Verhalten, das als Unzuverlässigkeit in einem derart heiklen Bereich ausgelegt werden kann. Alle 160 Kollegen, die derzeit in Berlin substituieren, müssen sich an die Zehnerregel halten. „Ich mußte auch Patienten wegschicken.“

Er findet es sogar bedenklich, wenn Süchtige sich an ihren Arzt klammerten. In der Szene sind die Ärzte am wenigsten beliebt, die ihrer Betreuung am gewissenhaftesten nachkommen und nicht nur den Stoff korrekt abgeben, sondern den Patienten zusätzlich Ziele stecken. Sie sollen etwa im ersten Jahr eine Wohnung zu finden und im zweiten Jahr eine Ausbildung beginnen. „Diese Menschen haben, wenn sie nicht schon todkrank sind, ihr Leben noch vor sich. Man tut ihnen keinen Gefallen, wenn man ihnen nicht auch Grenzen setzt, an denen sie wachsen können.“ Seiner Einschätzung nach hatten es Patienten bei Schmitz-da Silva besser als bei einem strengeren Arzt.

Professor Bernhard Haffke, der Schmitz-da Silvas Interessen im Konflikt mit der KV vertritt, rechnet trotz allem nicht damit, daß es zu einem Verfahren kommen wird. Die Zehn-Patienten-Klausel hält er ohnehin für verfassungsrechtlich bedenklich. „Man schreibt ja auch keinem Arzt vor, wie viele Krebspatienten, Herz oder Zuckerkranke er behandeln darf“, so Haffke. Davon abgesehen, liegt zur Zeit im Bundesgesundheitsministerium ein Änderungsantrag vor, wonach niedergelassene Ärzte 20, bei ausreichendem Personal bis zu 50 Patienten substituieren dürfen. Damit wäre ihr Hauptverstoß gegen die Richtlinien hinfällig. Ihr dann angesichts ihrer unbestrittenen Kompetenz die Genehmigung wegen zu spät gestellter Anträge zu verweigern, hielte er für grotesk. Corinna Raupach