"Wo ist in Deutschland nicht Provinz?"-betr.: Replik auf Bohrers "Über die Rettung der Ironie", taz vom 20.3.93

Replik auf Bohrers „Über die Rettung der Ironie“,

taz vom 20.3.93

Wenn jemand „Es ist offensichtlich...“ sagt, dann ist vor allem eines offensichtlich: Der Autor drückt sich davor zu argumentieren. Wenn Herr Bohrer erklärt: „Es ist offensichtlich, daß Heines poetische Formel vom deutschen Volk nicht nur untauglich war für den politischen Nationalismus, sondern für eine Staatstheorie überhaupt“, dann ist an Bohrers These eines offensichtlich: daß behauptet wird, was zu beweisen wäre.

Der Begriff „Volk“ hat in Deutschland allemal zwei Bedeutungen: Einmal steht das niedere Volk seinen Herrn und ihren Schönrednern gegenüber. Und dieses Volk war in Deutschland immer schon ein buntes Gemisch aus Menschen unterschiedlichster Abstammung. Am Rhein ganz besonders.

Ein andermal dient das „Wir“ des Volkes der Abgrenzung gegen die Fremden, und plötzlich zählen die Herren und ihr Anhang wieder zum Volk. Auch das hat eine lange Tradition, die man in der Provinz, gerade auch in der rheinischen Provinz, anhand der zahlreichen angezündeten Synagogen zurückverfolgen kann.

Als in Leipzig die Menschen riefen: „Wir sind das Volk“, faßte ich große Hoffnung, als die Rufe umschlugen in „Wir sind ein Volk“, wußte ich, daß uns schlimme Zeiten bevorstehen. Oder, um mit Heine zu sprechen:

„...der Patriotismus des Deutschen hingegen besteht darin, daß sein Herz enger wird, daß es sich zusammenzieht wie Leder in der Kälte, daß er das Fremdländische haßt, daß er nicht mehr Weltbürger, nicht mehr Europäer, sondern nur ein enger Deutscher sein will. Da sahen wir nun das idealistische Flegeltum, das Herr Jahn in System gebracht; es begann die schäbige, plumpe ungewaschene Opposition gegen eine Gesinnung, die eben das Herrlichste und Heiligste ist, was Deutschland hervorgebracht hat, nämlich gegen jene Humanität, gegen jene allgemeine Menschenverbrüderung, gegen jenen Kosmopolitismus, dem unsere großen Geister, Lessing, Herder, Schiller, Goethe, Jean Paul, dem alle Gebildeten in Deutschland immer gehuldigt haben.“

Weimar war immer schon eine kleine Stadt, auch als dort der große Goethe hof hielt.

Und auch Berlin wird zum Dorf, noch ehe die S-Bahn die letzten Außenbezirke erreicht. Es ist deshalb albern, wenn der Professor aus Bielefeld den „Weg in die Provinz“ als „gedanklich unhaltbar“ bezeichnet. Wo ist in Deutschland nicht Provinz? Auf welchen Weg muß man sich da erst machen?

Die Deutschen haben immer in der Provinz gelebt, und ihr Versuch, an der Spree ein zweites Paris zu errichten und diesem das eigentliche Paris zu unterwerfen, hat Europa, aber auch ihnen selber, unermeßlichen Schaden zugefügt. Was Bohrer als „gescheiterte Universalisierungen“ bezeichnet, waren die Siege der erbärmlichsten und schrecklichsten Borniertheiten. Dabei muß Bohrer sogar fälschen, in dem er Fichte zum geistigen Führer der ersten deutschen Nationalbewegung macht. Hätten doch Namen wie Theodor Körner, Turnvater Jahn oder Ernst Moritz Arndt zu deutlich gezeigt, wie wenig Geist damals schon in dieser Bewegung war.

Die deutsche Provinz ist weder etwas besonders Idyllisches, noch ist sie besonders schrecklich, sie ist einfach der Ort, an dem die Deutschen leben. Die Franzosen mögen neben der Provinz noch Paris haben, die Engländer London, die Italiener Rom, die Portugiesen Lissabon, die Deutschen haben statt dessen Frankfurt, Stuttgart, München, Köln, Hamburg, Berlin, Bielefeld usw. usf., alles Städte, aber keine Metropolen.

Weil es „den Weg in die Provinz“ nicht gibt, denn wo man schon ist, da kann man nicht hingehen, deshalb führt auch kein Weg in eine „neue Unschuld“ und deshalb ist die Provinz kein geschichtsloser Ort. Wie kann man zwischen Domen, Burgen, Judenfriedhöfen ohne Gemeinden, Westwällen und „Reichsautobahnen“ im „historischen Niemandsland“ leben? Noch dazu, wenn nahebei die Fabriken stinken, aus denen auch das Gas für Auschwitz kam.

Es wäre schön, zu schön, um wahr zu sein, den Deutschen würde es tatsächlich an Patriotismus mangeln. Es gäbe nichts, auf das ich leichteren Herzens verzichten könnte. Denn was in Frankreich „Patrie“ heißt, heißt im Deutschen Heimat und liegt allemal in der Provinz. Und was sich in Deutschland „Patriotismus“ nennt, ist der Mangel an Heimatliebe, der die konkrete Nähe des Ortes, an dem man lebt, einer abstrakten Idee namens „Vaterland“ opfert.

Auch die Sorge Bohrers ums Provinzielle entspringt der Sorge um mangelhafte Opferbereitschaft. So fürchtet Bohrer, die Deutschen, speziell die Westdeutschen, könnten zu provinziell sein, um ihre Söhne und ihr Geld fürs Vaterland zu opfern. Ich fürchte, Herr Bohrer hat eine zu gute Meinung von seinen Landsleuten, wenn er sie schlechtmacht. Ich befürchte, sie sind patriotischer im Bohrerschen Sinne, als er zu hoffen wagt. Warum Bohrers Erguß „Über die Rettung der Ironie“ betitelt ist, bleibt ein Rätsel des Professors der Literaturgeschichte. „Über die Rettung der Idee des Vaterlands“ wäre sicher passender gewesen. Aber vielleicht fürchtete der Herr Professor provinzielles Hohngelächter. Walter Altvater, Mutterstadt