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Seitenblicke

Mittag in einer sächsischen Stadt  ■ Von Gabriele Goettle

Über den Ring fährt ein Konvoi russischer Militärlastwagen voller Soldaten. Hinten auf den Ladeklappen hängen gelbe Schilder, auf die mit hohen, schwarzen Lettern das Wort MENSCHEN gemalt ist.

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Im Bahnhof bewachen zwei grobschlächtige Skulpturen aus den 30er Jahren den pompösen Aufgang zum zugenagelten Mitropa- Restaurant. Beköstigung findet der Reisende nun im Automaten. Unter der Skulptur des knieenden Bergmannes, mit nacktem Oberkörper, Helm und Grubenlampe, steht ein Zeuge Jehovas und bietet demutsvoll die aufgefächerte Werbeschrift fürs tausendjährige Messiasreich dar. „Erwachet!“ lautet die Parole, aber unter den Passanten findet sie keinen Anklang. Lediglich ein stark verwahrloster Mittfünfziger hat sich dazugestellt und erzählt dem schweigenden Zeugen in gewählter Ausdrucksweise sein Schicksal. Nebenan in der Unterführung zu den Bahnsteigen ist ein Astrofixautomat postiert, der nach Einwurf von einer Mark und dem Eintippen der persönlichen Daten, sofort ein Horoskop auswirft.

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„Mahlzeit!“ ruft der PDS-Vorsitzende in den Raum hinein, tritt dynamisch vor die Essensausgabe, mustert die Schiefertafel und bestellt Krautwickel mit Stampfkartoffeln und brauner Soße. Als Nachtisch gibt es Mandarinenkompott. Er nimmt Platz am wachstuchgedeckten Tisch neben dem Fenster, wo bereits zwei weitere PDS-Genossen speisen, einer, der ältere, war Offizier der Volksarmee, der andere hatte eine hohe Position bei der Wismut. Ihr Vorsitzender ist Mitte Dreißig. Wir befinden uns im Souterrain der ehemaligen SED-Kreisleitung. Hier scheint die Welt noch in Ordnung. Die kleine Kantine hat fast unverändert die Wende überstanden, ebenso erging es den kräftigen Küchenfrauen, die mit weißen Schürzen und Käppchen riesige Töpfe und Pfannen auf dem umfangreichen Herd hin und herwuchten, Essen ausgeben, Tische abwischen, Geschirr entgegennehmen. Sie kochen nach wie vor ihre sächsisch-thüringische Hausmannskost, lediglich die ehedem obligatorische Frischkost wurde fast vollends durch – zwar vitaminloses, aber dafür hoch im Ansehen stehendes – Obst aus Konserven ersetzt. Auf den Stockwerken weiter oben hingegen ist kaum noch etwas so, wie es war. Neben städtischen Dienststellen sind Fahrschule, Sprachlabor, Umschulungsgesellschaften usf. eingezogen. Die PDS haust in zwei kleinen Büroräumen voller Schränke, an denen noch die erbrochenen Amtssiegel der letzten Aktenbeschlagnahmung haften. Hier werden Kampagnen gegen Arbeitslosigkeit und Mieterhöhungen vorbereitet. Im Treppenhaus steht, ohne bisher beanstandet worden zu sein, ein großer Vitrinenschrank voll verstaubter Reliquien und Paarteibroschüren.

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Der katholische Buchladen CONCORDIA ruft per Unterschriftenliste zur Verurteilung der Abtreibugspille auf. Nebenan versichert die freikirchliche Gemeinde der Baptisten auf einem Plakat: „Gestern ist vorbei, morgen noch nicht da, Gott hilft HEUTE!“ Ein anderes Motto hat man sich auf dem Rummelplatz ausgedacht. Am Kartenhäuschen des Magic-Moonbase-Karussells steht unter der Aufschrift Kasse mit verschnörkelten Buchstaben geschrieben: „...man gönnt sich ja sonst nichts!“

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Die modernistische Fußgängerzone im Zentrum ist fast so etwas wie ein Fanal für den Einzug der profitorientierten Wirtschaftsweise geworden. In wenigen Wochen gelang, was jahrzehntelang unveränderbar schien und als gegeben hingenommen worden war. Das desolate mittelalterliche Kopfsteinspflaster wurde herausgerissen und, nachdem vom Telefonkabel bis zum Fernwärmerohr allles neu verlegt war, durch ein neues Pflaster aus gußeisernen Steinen ersetzt. Ausgeführt wurde der Auftrag, wie es wegen höherer Subventionen und billigerer Angebote üblich ist, von Unternehmen und Arbeitern aus Dortmund. Nachdem dann auch die Fassaden renoviert waren und die Dächer neu gedeckt, wurden die Mieten in den alten Büro-und Geschäftshäusern in bisher unvorstellbare Höhe hinaufgetrieben. Weder das Geschäft für Aquarianer und Anglerbedarf, noch der seit drei Generationen ansässige Portraitfotograf beispielsweise waren in der Lage, die entsprechenden Einkünfte zu erwirtschaften. Die Karl-Marx- Buchhandlung verkleinerte sich und ihr Sortiment zur „Bücherstube“. In die leer gewordenen Geschäftsräume zogen Boutiquen, Backwarenshop, Drogeriemarkt, Pizzeria, „Tschibo“. Ins Kaufhaus „Konsument“ zog „Horten“ und läßt seitdem zehn Meter lange weiße Fahnen mit rotem Namensaufdruck vor seiner Fassade flattern. Einzig verbliebener Schandfleck ist der mobile Goldbroilergrill an der Ecke am Dom, aus dem bei jeder Umdrehung des aufgespießten Geflügels das Fett aufs frische Pflaster tropft.

Nicht weit davon, drängen sich Kinder und Jugendliche vor den Kassen von McDonald's. Ein Zwölfjähriger mit einer kleinen Tüte Pommes sagt mir, was er über die Dinge so denkt:

„Heute finden die Kinder den Westen nich mehr so toll wie am Anfang. Die ganzen Spielsachen, alles, das können wir im Schaufenster sehn. Das Geld zum Kaufen haben meine Eltern bis heute nich. Wir können nich mal bei „Massa“ einkaufen, wir müssen zu „Aldi“ gehn. Das Geld hier für die Pommes ist von der Oma. Drei Mark Taschengeld die Woche, damit kann man fast nix anfangen.

Eine Kugel Eis z.B. bei uns war die 15 Pfennige, heute kostet die eine Mark. Oder ein Meerschwein. Das hat mal höchstens acht Mark gekostet, sagt mein Bruder, jetzt muß man fünfundzwanzig Mark bezahlen im Zoogeschäft. Kino war mal ein Fünfziger und heute wollen sie sieben Mark.

Und die ganzen Appelle, gut, die sind zwar weggefallen, aber es war auch sehr schön, das Pionierhalstuch zu tragen, und wir haben gebastelt, das Ferienlager war prima. Der junge Pionier mußte für Recht und Ordnung eintreten. Heute ist alles grade umgekehrt. Wir dürfen die Lieder nich mehr singen. Unsere Helden sollen nich mehr genannt werden...“

„Welche Helden waren das denn, weißt Du die Namen noch?“ frage ich. Er tunkt ein Pommesfrite in Ketchup, leckt es ab und sprudelt dann hervor: „Ernst Thälmann, Wilhelm Piek, Karl Liebknecht, Rosa Luxemburg und Lenin...“

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Weniger schnell als das Straßenbild ist offenbar der in ihm umherspazierende Fußgänger modernisierbar. Hoffnungslos deplaziert wirken die Leute mit falschen Mützen, Segelohren, viel zu roten Backen, Übergewicht, merkwürdigem Gang. Die Arbeiter, die unverdrossen ihren graublauen VEB- Anorak zur braunen Hose von früher tragen, strotzen geradezu vor Desinteresse für Textilien im Sonderangebot, die aus den Geschäf

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ten heraus bis auf die Straßen quellen. Rundliche Hausfrauen in Arbeitslosigkeit oder Vorruhestand, die statt der Plastiktüten ihre alten Einkaufsbeutel bei sich tragen, machen auch nicht gerade den Eindruck der Kundin im Kaufrausch. Selbst die jungen Muttis in Jeansanzug und T-Shirt sind nicht so recht up to date. Dafür aber sieht die Jugend aus, als sei sie gerade einem amerikanischen Schoolbus entstiegen, mit ihren Blousons, Basketballmützen, Bluejeans und Sportschuhen. Einige der Außenseiter allerdings tragen immer noch jenes streichholzdicke Zöpfchen am kurzgeschorenen Nacken, das einst, zu DDR-Zeiten, zum Ritual der kleinen Verstöße gehörte.

Allen gemeinsam aber, ob alt oder jung, ist eine gewisse Unprofessionalität beim Gebrauch der neuen Gesten und Mienenspiele. Man hat noch nicht zu jener ungerührten Selbstverständlichkeit gefunden, die dem Westdeutschen zu unerschöpflicher Ausdruckslosigkeit verhilft. Und so gehen sie herum in ihrer durchgestylten Fußgängerzone, fremdeln ungeniert. Sie sind durch schwindende Finanzkraft einerseits und das martialisch einmarschierte Überangebot andererseits enttäuscht und verschüchtert.

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Alte, und all die anderen schlechten Kunden, bevorzugen die Seitenstraßen, in denen es nur langsam oder gar nicht vorwärts geht. Da gibt es beispielsweise das Backwarengeschäft, aus der ehemaligen Produktionsgenossenschaft übriggeblieben, das noch nicht von der Tschibokette übernommen wurde. Neben einem stilisierten schwarzweißen Tortenstück steht der Name FORTSCHRITT auf der Scheibe. Hier haben sich mehrere Bäcker zusammengetan und fabrizieren gemeinsam, mit den Fertig- Backsubstanzen aus dem Westen, im Schnellverfahren zweieinhalb Dutzend Brot- und Brötchensorten, die nach nichts schmecken, aber den „individuellen Kundenwunsch“ befriedigen sollen. Acht Verkaufsstellen werden täglich beliefert. Man hofft, gegen den „Backshop“ in der Fußgängerzone, in dem die gleichen minderwertigen Brötchen im gläsernen Backofen vor aller Kundenaugen gebacken werden, eine kleine Chance zu haben. Hat sie aber nicht. Eine Greisin betritt den Laden, mustert ausführlich die Kuchenvitrine und sagt dann: „Ich wollte nach so nem kleinen Königskuchen fragen, wies ihn hier früher immer gab.“ Die Verkäuferin unterbricht das Portionieren der Tortenstücke und deutet mit der Klinge aufs Kuchenangebot: „Nur was sie hier sehen. Königskuchen haben wir momentan nicht im Angebot.“ Die Kundin dankt und entfernt sich.

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Es schlägt ein Uhr vom Rathaus herüber. Ein alter, abgemagerter Mann, umschlottert von viel zu weiten Hosenbeinen, nähert sich dem Haushaltswarengeschäft. Er spitzt die Lippen, schneidet Grimassen, gestikuliert und betritt den Laden. Beim Öffnen der Tür ertönt ein Glockenspiel, und noch bevor der Kunde richtig eingetreten ist, teilt sich ein grüner Vorhang zwischen den Regalen, steht die Geschäftsfrau bereit. Der Mann legt zwei zusammengerollte Tücher auf die Glasplatte und macht mit Zeige- und Mittelfinger schneidende Bewegungen. Dazu knurrt und brummt er, befördert aus seiner Manteltasche zwei kleine Scherchen und fuchtelt damit herum. Ungerührt wickelt die Geschäftsfrau aus den Tüchern vierundsechzig Eßmesser und zehn Papierscheren. Sie sollen geschliffen und die kleinen Scheren zusätzlich gespitzt werden. So steht es auf dem Zettel, den der Mann mit seinen mageren Händen auf der Glasplatte glattstreicht. Die Geschäftsfrau zählt noch einmal die Messer durch und schreibt dann auf einen Block, was es kosten soll: 165 Mark das Schärfen der Messer und Scheren, 14 Mark das Spitzen der Scherchen. Hier protestiert der Kunde heftig und schimpft unartikuliert. „Es ist ja alles viel teurer geworden“, sagt die Geschäftsfrau sehr laut und überdeutlich die Worte mit den Lippen formend: „Bezahlen muß es ja die Taubstummenanstalt.“ Der Mann stößt einen empörten Aufschrei hervor, deutet auf die Scherchen und schlägt sich dann mit der flachen Hand auf die Brust. Es sind seine. Er braucht sie zur Verrichtung der Heimarbeit, mit der sich die Insassen der Anstalt etwas Taschengeld verdienen. „Ich mache die Preise nicht!“ ruft die Geschäftsfrau zweimal und schüttelt den Kunden am Ärmel. Der steckt protestierend den Abholschein ein und verläßt den Laden. Gestikulierend und bellende Laute hervorstoßend, geht er mit staksigen Schritten davon. Plötzlich wird mir klar, daß taubstumme Alte, wenn sie mit sich selber reden, ja in der Taubstummensprache mit sich selber reden.

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Vor die Auslage des Haushaltswarengeschäftes ist ein Frau Ende Fünfzig getreten. Sie studiert das Angebot, seufzt und wendet sich dann unbefangen an mich: „Is das nich doll, was es nu alles gibt? Nä, also alles kaufen, das können wir auch nich, was zuviel is, das is zuviel!“ Sie pocht mit dem Fingernagel aufs Glas zum Besteck hin: „Besteck hab ich noch zu Hause, für sechs Personen, nu bin ich ja alleine... das is sogar welches von vor dem Kriege. Nich mehr so ganz blank isses, da gabs das noch nicht, rostfrei, aber guter Stahl. Zeit zum Putzen hab ich ja.“ Sie lacht und zeigt auf ein Gärtnermesser mit grünem Holzgriff. „Was das da für ein Messer ist, kann ich Ihnen erklären. Das is zum Beschneiden der Bäume, der Obstbäume. So eins hatte mein Vater und ich hab ihm gerne zugeschaut als Kind. Schneiden muß man immer kurz über einem guten, gesunden Auge, und das soll nach außen zeigen, damit der Trieb später Platz hat, ja, ich weiß es noch ganz genau.“ Sie tippt in Richtung der asiatischen Klappmesser (auch Butterflymesser genannt, die als gefährliche Kampfmesser gelten und heute bereits in fast jeder Schülerhosentasche bereitgehalten werden) und sagt: „Aber für was die sind, das weiß ich nicht.“

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Am Kiosk bei der Haltestelle versorgen sich Zeitungsleser, Raucher, Kinder und Alkoholiker mit dem Nötigsten. Hier steht seit einigen Minuten ein stämmiger Mann mit braunem Strickpullover halb auf der Fahrbahn und dirigiert mit weit ausholenden Armbewegungen den hupend um ihn herumflutenden Verkehr. Ein Opa mit bunt tätowierten Handrücken und blauer Pennerträne im Augenwinkel hält mit der Rechten die Hand seiner kleinen Enkelin, mit der Linken Bierbüchse und Zigarette fest. Gemeinsam betrachten sie das Schauspiel, er prostet dem Dirigenten zu und geht dann mit dem folgsamen Kind zur nahen Grünanlage. Seit der Wende ist hier ein Treffpunkt für altgediente und neu entstandene Randexistenzen. An schönen Tagen sind die Bänke zusätzlich bevölkert mit taubenfütternden Vorruheständlern, Müttern mit Kinderwagen und leicht verwahrlosten Arbeiterinnen, die aus den Vororten in die Stadt gekommen sind, um einzukaufen oder bei irgend einem der Ämter vorzusprechen, wegen Arbeitslosigkeit, Rente, Wohngeld usf.

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Durch die Fußgängerzone kommt ein laut aufeinander schimpfendes Paar und ergibt einen starken Kontrast zu Design und Ambiente ringsum. Sie, etwa Ende Dreißig, wirkt auf den ersten Blick noch unauffällig. Mantel, Tasche und Schuhe jedoch sind stark abgetragen, am linken Auge ist ein Hämatom zu sehen. Ihm hingegen – mit strähnigem Haar, dünnen Beinen und abgezehrtem Hintern unter der schmutzigen Hose – sieht man alles sofort an. Er bleibt abrupt stehen, legt den Kopf zurück, trinkt schwankend seine Bierbüchse leer und scheitert beim Versuch, sie zu zerdrücken. Weiter geht es mit den beiden so:

Sie: Gib her, ich steck das in meine Tasche ein!

Er: Hau ab du, verpiß dich, alte Votze!

Sie: Alte Votze, sagst Du zu mir?

Er: Ich sag noch ganz was anderes zu Dir, Mistsau!

Sie: Ich rate Dir, reiß nur nicht dein Maul so weit auf, sonst wirst Du schon sehn...

Er: Was willste damit sagen, was werde ich sehn, was! Eine auf die Schnauze kannste haben, hier... (Er holt aus, sie tritt zur Seite und er taumelt mit vorgestreckter Faust ins Leere. Ruft dann triumphierend aus) so Du!

Sie: Danke nee, ich hab schon ein Veilchen.

Er: Von mir nich, Du Dreckstück!

Sie: (Zeigt auf ihren Oberarm) Und wer hat mir die ganzen blauen Flecken da gemacht gestern abend, das war ich wohl selbst, was?

(Sie sind an der Haltestelle angekommen, wo der Bus bereits steht.)

Er: Steig ein da, los, rein in den Bus!

Sie : Ich will aber noch gar nicht nach Hause fahren.

Er: Quatsch nich rum Votze, steig ein, los!

(Beide steigen ein und gehn, ohne zu bezahlen, freundlich grüßend am Fahrer vorbei. Der kennt sie offensichtlich und grüßt mit einer knappen Handbewegung zurück. Das Paar mimmt auf der Hinterbank Platz.)

Sie: (Ein wenig von ihm abrückend) Was willste denn eigentlich, warum läufste denn immerzu hinter mir her? Mir geht das auf die Nerven, sowas!

Er: Ich? Ich lauf Dir nich hinterher... guck Dich doch mal an, wie Du aussiehst, wie ne Vogelscheuche, nee danke. Da kommt einem ja alles hoch, ehrlich gesagt!

Sie: Schon gut, wenn das so ist... (sie steht auf und setzt sich auf einen Platz weiter vorne)

Der Bus ist halbvoll. Wir fahren durch ein ehemals gutbürgerliches Viertel. Die Mietshäuser haben, sofern noch nicht abgefallen, Stuckverzierungen und breite Balkone. Neben den Eingangsportalen liegen winzige Vorgärten hinter schmiedeeisernen Zäunen. Ein Krankenwagen überholt uns mit Karacho und fährt fast in eine der zahllosen Baustellen.

Allmählich werden die Häuser schlechter, die Fensterfluchten und Balkone verschwinden. Die meisten der kleinen Geschäfte sind aufgegeben und stehen leer. „Waren des täglichen Bedarfs“ werden am Wochenende in einem der fünf Großeinkaufsmärkte geholt, die die Stadt umlagern. Hier gibt es nur noch die aus der Gründungswelle 1991 übriggebliebenen Kleinunternehmer, Handwerker und natürlich die Buden und Lädchen mit den kumpelhaften Namen: Monis Getränkestützpunkt, Peters Imbiß, Walters Videoshop. Der Bus ist nun fast leer und fährt an den Haltestellen vorbei stadtauswärts, entlang an stillgelegten Fabrikanlagen, verrußten Lagerhäusern, Werksgeländen voll rostender Maschinenteile, einem Rangierbahnhof. Von weitem ist die Hochhaussiedlung zu sehen, zu der dieser Bus offenbar fährt. Wie ein schneebedecktes Gebirgsmassiv zieht sie sich am Horizont entlang. Der Trinker kommt von hinten und setzt sich neben die Frau:

Er: He, Votze, gib mir mal zehn Mark. Los Du!

Sie: (auflachend) Zehn Mark, Dir? Lieber schmeiß ichs ins Klo und spüls runter. Rück mir gefälligst nich so auf die Pelle, hau ab!

Er: Komm, sei doch nicht so, gib mir die zehn Mark und ich geb sie Dir morgen abend wieder, Ehrenwort, ich bin doch kein Schwein oder was... mach schon!

Sie: Nix kriegste, keinen Pfennig! Ich hab die letzten Zwanzig noch nich zurück, weißte, sowas vergeß ich nich...

Er: (ihre Hand streichelnd) Weiß ich doch, ist doch klar, das wird erledigt. Jetzt gib mir wenigstens fünf Mark, gib nen Fünfer, heute und morgen haste alles wieder, bar auf die Hand. na sag mal, nur Fünfe! Oder haste soviel nicht?

Sie: Ich hab genug! (Sie gräbt in ihrer Handtasche und reicht ihm nach einer Weile ein Geldstück).

Er: (vorwurfsvoll) Das sind fünf Mark!

Sie: Wirklich?! Mehr gibts nicht.

Er: Na gut. Deine Fresse merk ich mir, geiziges Luder! (Er steckt es ein und fragt nach einer Weile) Na, von wem sind denn die, diese fünf Mark?

Sie: Von wem? Vom Sozialamt natürlich, von wem denn sonst!

Er: Ach hör uff, verlogenes Miststück, Du nimmst doch von jedem Geld. Und überhaupt, du stinkst mich schon lange an, alte Votze, weißte das?

Sie: (gelangweilt) Wieso den das?

Er: Weil Du mich liebst. Zum Kotzen ist sowas!

Sie: (verächtlich) Ich hab Dich noch niemals geliebt... andere ja, aber Dich nicht!

Er: Na red mal nicht so nen Scheiß hier. Überleg doch mal, warum Du schon zehn Jahre hinter mir herrennst und (er holt das Fünfmarkstück aus der Tasche und dreht es vor ihren Augen hin und her) mir Geld gibst...

Sie: (gelangweilt) Zehn Jahre?

Er: Genau! Und von wem sind deine Kinder?

Sie: Was weiß ich von wem, ist mir doch egal. Vom lieben Gott vielleicht, der ist auch so ein Arschloch wie Du!

Er: (wütend) Laß die Kirche aus dem Spiel, Du weißt, ich bin Christ, da versteh ich keinen Spaß mit, verdammte Drecksau, ich schlag dir die Zähne ein! (Schlägt nach ihr, steht auf und setzt sich wieder nach hinten).

Wir sind angekommen. Auf einer sechsspurigen Straße geht es durch die architektonische Öde. An den vielen Autos auf den Parkplätzen kann man sehen, daß die Arbeitslosen fast alle zu Hause sind. Drei Stationen später, an der Endhaltestelle, steigt das Paar aus. Scheinbar friedlich streben sie über einen menschenleeren Platz dem Wohnmoloch zu, werden immer kleiner und verschwinden dann. Der Busfahrer schnippt seine Kippe weg, steigt ein, und wir fahren zurück. Lange Zeit bin ich der einzige Fahrgast.

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