■ Auf der Suche nach vernünftigeren Einigungsformeln
: Deutschland begründen

Hat sich bei der – alle gleichermaßen überraschenden – „Wende“ der westeuropäischen Nachkriegsentwicklung 1989/90 irgendeiner der Akteure die Mühe gemacht, die Rückkehr in eine nationalstaatlich organisierte politische Einheit namens Deutschland erst einmal zu begründen? Eine von der Geschichte überholte und zudem überaus akademische Frage, wird man vielleicht einwenden. Denn Deutschland – oder die Bundesrepublik – sei ja schließlich bereits seit zweieinhalb Jahren, seit dem 3. Oktober 1990, neu konstituiert. Und erübrige die Identität (oder Kontinuität?) der „alten“ BRD mit der Bundesrepublik, die durch den „Beitritt“ der DDR nur erweitert wurde, nicht eine Neukonstituierung?

Mir scheint, die Entwicklung der letzten drei Jahre hat bereits mehr als deutlich gezeigt, daß wir uns die Be-Gründung so einfach nicht machen dürfen. Es geht ums Begründen in der Doppelbedeutung des Wortes: Gefragt ist sowohl nach der Form (Konstituierung und Konstitution) als auch nach dem Sinn der Vereinigung – und zwar in einem republikanisch- reflexiven, keinem archaisch- blutsbetonten Verständnis.

Zur Form, zum Akt der Konstituierung, gleich vorab: Der Gründungsakt, der 1990 sehr bewußt vermieden worden ist – um die Bundesrepublik und ihre Verfassung sowenig wie möglich verändern zu müssen und den „Beitritt“ der DDR als deren möglichst restlose Absorption zu gestalten –, wird sich kaum einfach ex post „nachholen“ lassen, lediglich zeitversetzt... Sowenig wie die „nachholende Gründung“ der „alten“ Bundesrepublik auf einer retrospektiven Gründungsversammlung vollzogen werden, sondern nur als jahrzehntelanger Demokratisierungsprozeß gelingen konnte, so wenig ist hier unter dem Stichwort der Begründung an eine verfassunggebende Nationalversammlung oder einen Gründungskonvent aller Interessenten, vielleicht am Runden Tisch, gedacht... Es wird wohl nur in einem neuerlichen Prozeß mühsamen Kleinarbeitens der Demokratieblockaden und Frustrationen, die durch die Art der „Vereinigung“ von 1990ff. neu aufgetürmt wurden, zu der erforderlichen Selbstverständigung der Ost- und Westdeutschen sowie der sog. ausländischen Mitbürger, deren Heimat dieses Land auch ist, über Sinn und Zweck des neuerstandenen Deutschland kommen können. Zu hoffen ist, dieser „Nachholprozeß“ möge nicht wiederum Jahrzehnte kosten.

Die besser durchdachte und menschlichere Begründung, warum Ost- und Westdeutsche ihre über vierzigjährige Eigenentwicklung hinter sich lassen (müssen) und erneut den einheitlichen Nationalstaat aller Deutschen zu konstituieren versuchen, wird, hoffen wir, zugleich bessere Einheits- „Formeln“ finden helfen als die bisherigen, in der Praxis gescheiterten bzw. in die Irre führenden.

Für die Westdeutschen, auch die Linke im Westen, führt kein Weg an der Einsicht vorbei: die Behandlung der Ostdeutschen als Bürger zweiter Klasse (oder auch nur deren Selbsteinschätzung als solche) ist der Kern der ostdeutsch-westdeutschen Entfremdung. Diese Ungleichheit ist (auch kürzerfristig) überwindbar, wenn nur der politische Wille dazu aufgebracht wird. Anders steht es bekanntlich mit der Ungleichheit des materiellen Lebensniveaus. Wenn wir die Bundesrepublik neu begründen wollen, ehe die unbedachte Rückkehr nach Deutschland vollends auf die schiefe Ebene gerät, die mit dem „Verlegenheitsnationalismus“ beginnt und über hilflose Patriotismus-Beschwörungen in die Ersatzbefriedigungen des Nationalismus und Chauvinismus führt, müssen wir uns den schlimmsten Defiziten des bisherigen „Einigungsprozesses“ zuwenden:

1. Das Demokratiedefizit: Die „Gründung“ von oben, der administrative, bürokratisch verkürzte Charakter der „Vereinigung“, die Ostdeutschen konnten zwar noch gegen die Erneuerung der „DDR“ und für rasche Vereinigung stimmen, nicht allerdings per Abstimmung über die Vereinigung durch „Beitritt“, die Westdeutschen wurden vor dem 3. Oktober 1990 überhaupt nicht gefragt; ihre fällige Bundestagswahl fiel aus. Die irreführend als „Wahlen zum 12. Deutschen Bundestag“ ausgegebenen Wahlen vom Dezember 1990 waren in Wirklichkeit etwas ganz anderes: die ersten Parlamentswahlen des ohne Befragung der zusammengespannten Staatsvölker „auf den Weg gebrachten“ Nachfolgestaats zu DDR/ und BRD/alt;

2. die Behandlung der Ex-DDR als Abwrackmasse (und schon der noch existierenden DDR vor den Volkskammerwahlen vom 18. März 1990 und auch oder erst recht vor dem „Beitritt“ am 3. Oktober 1990);

3. die bereits angesprochene Behandlung der Ostdeutschen als „Bundesbürger zweiter Klasse“, ihre Deklassierung, die Mißachtung ihrer Geschichte/Biographien/Erfahrungszusammenhänge, ihres Orientierungswissens etc.;

4. das Unverständnis für die Soziale Frage im Osten, die offene oder verdeckte Arbeitslosigkeit, die Herabwürdigung eines ganzen Volkes zu Hilfsempfängern.

Neubestimmung der Ziele

Die neue Bundesrepublik braucht, gewiß nicht weniger als die „alte“, eine neue Entwicklungslogik, anknüpfend an eine halbvergessene Formel aus der ökologischen Aufbruchphase in den 70er Jahren und diese auf die neue Situation in Deutschland anwendend: einen neuen „Zielemix“ der Politik, der den (im Einheitsrausch verdrängten) „Grenzen des Wachstums“ ebenso Rechnung trägt wie der Notwendigkeit, materielle Ansprüche zurückzufahren, neu teilen und verteilen zu lernen – z.B. eben die „knapper werdende“ Arbeit und die ungleichmäßig strapazierten natürlichen Ressourcen. Denn weder wird der Osten „einheitlich“ wie der Westen werden können, noch wird ein Zurückfahren des Westens auf das Ostniveau von 1989 oder 1993 politisch durchsetzbar (und ökonomisch mit der weltwirtschaftlichen Einbindung Westdeutschlands vereinbar) sein; ein Aufeinanderzugehen und Treffen „in der Mitte“ erscheint aus den gleichen Gründen unrealistisch. Deshalb: Gemeinsam neue Lösungen entwickeln, auf einer neuen Ebene – selbstverständlich unter massivem West-Ost-Transfer, aber ohne illusionäre Vereinheitlichungsziele und ohne Außerkraftsetzung aller Erkenntnisse über Wachstumsgrenzen, ökologischen Umbau, ost-westliche und nord-südliche Interdependenzen und Transferansprüche.

Dabei kann es nicht, wie manche Verächter der „alten“ Bundesrepublik zu meinen scheinen, um deren Abwracken gehen, sondern nur um einen Prozeß des Umbaus, der die Errungenschaften der Verwestlichung, Demokratisierung, Zivilisierung des politischen Lebens produktiv nutzt und nicht etwa als undeutschen Ballast über Bord wirft. In den „alten“ Ländern leben vier Fünftel der Bevölkerung; hier liegt die Hauptquelle möglicher Umverteilungsleistungen, und hier müssen sie begründet werden, hier als gesamtgesellschaftliche Notwendigkeit plausibel, akzeptabel gemacht werden.

Würden die Ost- wie die Westdeutschen jeweils – und gemeinsam – Schritte auf weniger zerstörerische Entwicklungspfade wagen, wären verallgemeinerbare Beiträge zur Verringerung der Ost-West- und vielleicht auch der Nord-Süd-Diskrepanzen zu erhoffen. Karl D. Bredthauer

Redakteur der „Blätter für deutsche und internationale Politik“; Vorabdruck aus 4/93