Handlungsverzicht im Staatsapparat

■ Die RAF reagierte auf versandete „Kinkel-Initiative“

Eigentlich war in der RAF-Erklärung vom 10. April vergangenen Jahres alles gesagt — nur wollten die wenigsten den kompletten Text der fünfseitigen Erklärung zur Kentnis nehmen. In den Vordergrund rückte fast ausschließlich die sensationelle Gewaltverzichtserklärung. Die Illegalen hatten geschrieben: „Wir haben uns entschieden, daß wir von uns aus die Eskalation zurücknehmen. Daß heißt, wir werden Angriffe auf führende Repräsentanten aus Wirtschaft und Staat für den jetzt notwendigen Prozeß einstellen.“ Der proklamierte notwendige Prozeß beinhaltete das Eingeständnis, mit dem bewaffneten Kampf gescheitert zu sein. Um aus ihrer politischen Isolation herauszufinden, formulierte die RAF verschwommen ein neues Ziel: den „Aufbau einer Gegenmacht von unten“.

Der ausgerufene Waffenstillstand hatte seinen Preis: die Freilassung der inhaftierten GesinnungsgenossInnen. Diese Forderung — seit Jahren zentraler Bestandteil aller RAF-Bekennerschreiben — wurde nicht einmal fundamentalistisch vorgetragen: „Die Haftunfähigen und die Gefangenen, die am längsten sitzen, müssen sofort raus, und alle anderen bis zu ihrer Freilassung zusammenkommen.“ Explizit bezog sich die RAF auf die Pläne des damaligen Justizministers Kinkel, der über eine vorzeitige Haftentlassung einzelner RAF-Gefangenen den Weg für eine politische Beilegung des RAF-Terrorismus zu öffnen suchte. Auf dem Drei-Königs- Treffen der FDP hatte Kinkel zwar erklärt, „der Staat kann und darf sich nicht erpressen lassen“. Er kündigte dennoch eine Kehrtwende im Umgang mit der RAF an: „Aber er [der Staat] muß auch dort, wo es angebracht ist, zur Versöhnung bereit sein.“

Kinkels Vorstoß war politisch an höchster Stelle gebilligt worden, hatte auch den Segen des Bundeskanzlers. Der Bundesjustizminister konnte sich zudem auf die Unterstützung der „Koordinierungsgruppe Terrorismusbekämpfung“ (KGT) verlassen, die nach dem Mord am Treuhand-Vorsitzenden Rohwedder vom 1. April 1991 gegründet wurde. Der jahrelange Mißerfolg in der Fahndung hatte die KGT-Experten veranlaßt, Alternativen zur Beilegung des Konfliktes zu suchen. In dem Kreis setzte sich die Auffassung des verstorbenen Hamburger Verfassungsschutz-Chefs Lochte durch, der einen zunehmenden Verfall der RAF-Kommandoebene konstatierte. Lochtes Formel: „Ohne Gefangene keine RAF“.

Die RAF hat die neue Bewegung im Staatsapparat genau registriert. Im April '92 hieß es: „Es ist eine wichtige Weichenstellung, ob sich in nächster Zeit etwas in diese Richtung bewegt (...) Setzt sich im Apparat die Fraktion durch, die einsieht, daß sie anfangen müssen, Zugeständnisse für politische Lösungen zu machen, oder setzen sich die Scharfmacher und Eisenfresser durch.“

Fast ein Jahr nach der Gewaltverzichtserklärung der RAF ist das Ergebnis der Kinkel-Initiative ausgesprochen dürftig: Detaillierte Pläne für die Haftentlassung von RAF-Gefangenen gab es zuhauf — es mangelte aber am politischen Willen, den (in der Öffentlichkeit) unbequemen Weg der Zugeständnisse zu gehen. Jüngstes Beispiel sind die Entscheidungen der Oberlandesgerichte in Düsseldorf und Hamburg, die eine Haftentlassung der Gefangenen Lutz Taufer, Karl- Heinz Dellwo, Christine Kuby und Hanna Krabbe ablehnten, nur weil diese sich weigerten, sich im Haftentlassungsprocedere psychiatrisch begutachten zu lassen.

Signale, die den propagierten Versöhnungskurs konterkarierten, setzte auch die der Justizmininisterin Leutheusser-Schnarrenberger unterstellte Bundesanwaltschaft. Ohne juristische Not leitete sie aufgrund der Aussagen der in der DDR festgenommenen RAF- Aussteiger neue Verfahren gegen Inhaftierte ein, die ohnehin schon zu lebenslanger Haft verurteilt worden waren. Auch die Entlassung des kranken Bernd Rößner mußte als Rückkehr zur alten Linie interpretiert werden. Mit den Anwälten der RAF-Gefangenen war eine Begnadigung des Haftunfähigen durch den Bundespräsidenten abgesprochen — tatsächlich wurde seine Haft aber nur für (vorläufig) 18 Monate ausgesetzt. Was unter dem Namen „Kinkel- Initiative“ als Chefsache begann, versandete auf dem Behördenweg. Daß die RAF darauf reagieren würde, war den Sicherheitsexperten bekannt. Diese wollten in den kommenden Wochen erneut im Kanzleramt vorsprechen, um der Versöhnungsinitiative neues Leben einzuhauchen. Vielleicht zu spät. Eine alte Regel besagt: Nach einem Anschlag geht erst einmal gar nichts. Wolfgang Gast