Ein Jahr nach ihrer Erklärung, sie werde „Angriffe auf führende Repräsentanten aus Wirtschaft und Staat“ einstellen, präzisier- te am Samstag die „Rote Armee Fraktion“ (RAF) ihre Vorstellungen: Unblutiger Rückbau des Superknasts von Weiterstadt.

Die RAF hält, was sie verspricht

Mit der Präzision eines Uhrwerks hat nach Angaben der Polizei das „Kommando Katharina Hammerschmidt“ gearbeitet: Gegen 1.30 Uhr in der Nacht zum Samstag kletterten vier maskierte und mit Maschinenpistolen bewaffnete Täter mit Hilfe zweier Aluminiumleitern und einer Strickleiter über die Mauer um den Knastneubau im südhessischen Weiterstadt. Anschließend stürmten die angeblich drei Männer und eine Frau das Verwaltungsgebäude und brachten zwei Wachleute und neun Vollzugsbeamte in ihre Gewalt. In einem Anfang März im Frankfurter Stadtteil Fechenheim gestohlenen VW- Transporter wurden die gefesselten Gefangenen dann in ein Waldstück in der Nähe der Haftanstalt gebracht und dort „geparkt“. Gut drei Stunden lang brachte das Kommando dann an verschiedenen Stellen des Gefängniskomplexes, der am kommenden Donnerstag in einem Festakt seiner Bestimmung übergeben werden sollte, Sprengladungen an. Insgesamt, so die Polizei, soll es sich um mehr als 200 Kilogramm Sprengstoff gehandelt haben.

Um 5.10 Uhr wurden die WeiterstädterInnen dann durch eine gewaltige Detonation aus dem Schlaf gerissen. Die Sprengsätze zerfetzten das Dach des Verwaltungsgebäudes und brachten ganze Wände zum Einsturz. Zerstört wurden auch die Sicherheitszentrale und das gesamte komplexe Leitungssystem des modernsten Gefängnisneubaus in Deutschland. Nach Auffassung von Experten des Staatsbauamtes müsse deshalb der Zentralbau des Gefängnisses „wahrscheinlich abgerissen“ werden. Den Schaden bezifferten Sachverständige am Samstag auf rund 100 Millionen Mark.

„Ich saß im Wachhäuschen. Plötzlich standen sie vor mir. Vier oder fünf waren es, mit schwarz- braunen Strumpfmasken, MPs und Pistolen.“ Der Wachmann, der noch Stunden nach dem Überfall geschockt war, berichtete am Samstag von der „rasenden Schnelligkeit“, mit der die Täter vorgegangen seien: „Hände hoch, hinlegen!“ habe der Befehl gelautet. Danach sei er gefesselt und in die Toilette eingesperrt worden. Zusammen mit den ebenfalls gefesselten Kollegen habe man ihn dann zu dem VW-Transporter geschleppt. Nur rund 100 Meter vom Gefängnisneubau entfernt sei das Fahrzeug dann abgestellt und verschlossen worden. Die Wachleute und Vollzugsbeamten, die fast alle aus Ostdeutschland kamen und die, weil sie noch keine Wohnung gefunden hatten, seit Wochen im Verwaltungsgebäude übernachteten, konnten sich erst kurz vor 6.30 Uhr aus dem Transporter befreien. Das Fluchtauto fand die Polizei später in Mörfelden-Walldorf: ein Mercedes 260 mit Darmstädter Kennzeichen. Die beiden Fahrzeuge wurden am Samstag auf dem Gelände des Bundeskriminalamtes (BKA) im Wiesbadener Stadtteil Kastel „ausgestellt“.

Weiterstadt sollte auch Abschiebeknast werden

Inzwischen hat Generalbundesanwalt Alexander von Stahl die Ermittlungen an sich gezogen. Die Bundesanwaltschaft (BAW) geht nach ersten Ermittlungen davon aus, daß es sich bei den Tätern um Mitglieder der „Roten Armee Fraktion“ (RAF) handelt. Im Fluchtfahrzeug des Kommandos habe die Polizei ein mit dem RAF- Emblem versehenes Bekennerschreiben gefunden, das nach Form und Inhalt als „authentisch“ (BAW) bezeichnet werden könne. Das „Kommando Katharina Hammerschmidt“ begründete den Anschlag u.a. damit, daß Weiterstadt auch der zentrale hessische Abschiebeknast werden sollte (siehe Faksimile auf dieser Seite).

Benannt hat sich das Kommando nach einer Anarchistin aus dem RAF-Umfeld, die 1975 in einem Berliner Krankenhaus an einem Lungentumor verstarb. Die damals in der Szene als „Cat“ bekannte Katharina Hammerschmidt hatte sich drei Jahre vor ihrem Tod freiwillig den deutschen Behörden gestellt, nachdem sie u.a. in Frankreich untergetaucht war. Steckbrieflich gesucht wurde Hammerschmidt, weil ihr die Staatsanwaltschaft vorwarf, Kurierdienste für die „Baader-Meinhof-Bande“ ausgeführt und Wohnungen besorgt zu haben. In einem Gespräch mit dem Stern sagte sie kurz vor ihrem Tod, daß sie sich in der 68er-Zeit in der Kinderladenbewegung engagiert habe. „Bei dieser Tätigkeit fand ich meinen politischen Standpunkt.“

Politisch war der Knastneubau bei Weiterstadt lange umstritten. In den ersten rot-grünen Koalitionsverhandlungen 1985 galt der geplante Gefängnisneubau als sogenannter Knackpunkt. Erst mit einem Brief, in dem er die sozialdemokratischen „Deadlines“ benannte, brachte Ministerpräsident Holger Börner damals die renitenten Grünen, die sich gegen Knastneubauten sperrten, auf Koalitionslinie. Börner sicherte eine „Erörterung über einen menschenwürdigen Strafvollzug in Hessen“ zu — aber die Gefängnisneubauten in Weiterstadt und in Schlüchtern stünden nicht zur Disposition. Während die Fundamentalisten diesen Konsens seinerzeit als „Verrat“ (Jan Kuhnert) bezeichneten, gab es auf der entscheidenden Landesversammlung der Grünen in Lollar dann grünes Licht für die von den Verhandlungskommissionen gefundene Kompromißformel: kein Knastneubau vor einer Expertenanhörung. Die Expertenanhörung fand statt, und in Weiterstadt feierte die SPD danach die Grundsteinlegung für den Bau der „modernsten Haftanstalt Europas“.

Heute nennt die hessische Justizministerin Christine Hohmann- Dennhardt (SPD) den Knast in Weiterstadt ein „Beispiel für modernen und humanen Strafvollzug in Deutschland“. Der Neubau in Weiterstadt sollte auch „Ausweichquartier“ für die „alte Scheuer“ (Börner) in Frankfurt- Preungesheim werden, die nach Auffassung von Hohmann-Dennhardt grundlegend renovierungsbedürftig und ständig überbelegt sei. Daß in Weiterstadt auch ein Hochsicherheitstrakt für Frauen gebaut wurde, verschwieg die Ministerin am Samstag. Wegen dieses Hochsicherheitstraktes, so erinnert sich der Ex-Landtagsabgeordnete der Grünen, Dirk Treber, sei ein bekannter Grüner aus der Region nach dem erfolgreichen Abschluß der Koalitionsverhandlungen aus der Partei ausgetreten. In einer Broschüre hatten radikale Grüne den Hochsicherheitstrakt als „KZ“ bezeichnet: „Stammheim II in Weiterstadt“.

Als dann 1987 die erste rot- grüne Koalition scheiterte und CDU und FDP in Hessen ans Ruder kamen, wurde die geplante Zahl der Haftplätze von 243 auf 495 erhöht. Sechs Kilometer lang und sechseinhalb Meter hoch zieht sich die Betonmauer heute, nach sechs Jahren Bauzeit, um das zwölf Hektar große Gelände. Kommentar von Harald Clausen vom hessischen Staatsbauamt im August 1990: „Kein Stabhochspringer kommt da 'rüber.“ Das „Kommando Katharina Hammerschmidt“ nahm die Festung offenbar locker und ohne Stab. KlausPeter Klingelschmitt, Frankfurt