Jüdische Opposition wird stark

■ Demokratische Liste verfehlt bei Wahl zum Parlament der Jüdischen Gemeinde knapp die Mehrheit / Stark dezimierte Liberale beanspruchen weiter Führungsrolle

Berlin. Am Sonntag hat die Jüdische Gemeinde ihr neues Parlament gewählt. Es endete mit einem Kopf-an-Kopf-Rennen, das Ergebnis stand nach mehrfacher Auszählung erst kurz vor Mitternacht fest. Es siegte der Liberal-Jüdische Block, der aber erheblich Federn lassen mußte. Bei der letzten Wahl vor vier Jahren und noch unter Heinz Galinskis unangefochtener Führung erreichten die Liberalen 15 von 21 Sitzen in der Repräsentantenversammlung. Jetzt konnte der Block, angeführt von Galinskis Nachfolger Jerzy Kanal und der bisherigen stellvertretenden Gemeindevorsitzenden Maria Brauner, nur die knappe Mehrheit von elf Sitzen erreichen. Die Demokratische Liste mit den Spitzenkandidaten Moishe Waks und Ron Zuriel, bislang nur mit sechs Sitzen im Gemeindeparlament vertreten, verbesserte ihre Präsenz auf zehn Sitze. Sie wird damit eine sehr starke Opposition sein. Wahlberechtigt waren rund 7.500 von 9.100 Mitgliedern, darunter zum ersten Mal seit der Vereinigung die etwa 250 Ostberliner Juden. Die Wahlbeteiligung war mit 44 Prozent außergewöhnlich niedrig. Insgesamt gaben nur 3.372 Mitglieder ihre Stimme ab. 1.747 votierten für den Liberalen Block, 1.518 für die Demokratische Liste. Die größten Erfolge erzielte die Opposition im Wahlkreis Oranienburger Straße (Mitte). Für die Liberalen ist dies das schlechteste Ergebnis in der Geschichte der Jüdischen Gemeinde nach 1949.

Wahl zwischen Transparenz und Kontinuität

Die jetzt gewählte Versammlung wird sich am 21. April konstituieren, einen neuen Parlaments-Vorsitzenden und einen fünfköpfigen Vorstand wählen. Dieser wiederum wird den Vorsitzenden bestimmen. Jerzy Kanal, der nach Heinz Galinskis Tod vor acht Monaten angekündigt hatte, nur als „Interimsvorsitzender“ zur Verfügung zu stehen, wird nach Auskunft von Pressesprecher Peter Ambroß sich für eine zweite Amtszeit sehr wahrscheinlich zur Verfügung stellen. „Ich stehe für Kontinuität im Sinne Heinz Galinskis“, sagte er zur taz. Seine Arbeit sei erfolgreich fortgeführt worden „und gehe weiter erfolgreich voran“. Demnächst werde man mit dem Senat über eine Erhöhung der jährlichen Zuwendungen reden, um die Integration der Neueinwanderer sicherzustellen. Für ausgeschlossen hielt er es, daß die nur knapp unterlegene Demokratische Liste an der Vorstandsarbeit beteiligt wird. „Wir haben die absolute Mehrheit“, sagte er, „für einen gemischt besetzten Vorstand besteht keinerlei Veranlassung.“ Offen ist deshalb, ob die Sitzverteilung in Zukunft mehr oder weniger Demokratie in der Jüdischen Gemeinde bedeutet. Denn die Stimmung ist seit Monaten über die Frage der Außendarstellung und Transparenz der Entscheidungsmechanismen stark polarisiert. Die Demokratische Liste argumentiert, daß knapp die Hälfte aller Gemeindemitglieder für einen Machtwechsel gestimmt haben.

Wahlkampfschlachten und quälend lange Sitzungen

Nicht nur das Ergebnis vom Sonntag ist bemerkenswert, der ganze Wahlkampf war spektakulär. Der Vorschlag der Demokratischen Liste, erstmals keine Listen-, sondern eine Persönlichkeitswahl abzuhalten, setzte sich nicht durch. Die Wahlschlachten fanden deshalb vorrangig in den öffentlichen Repräsentantenversammlungen statt. Das Ergebnis: Noch niemals in der Nachkriegsgeschichte wurde ein Wahlkampf so heftig und mit so vielen persönlichen Angriffen gegen- und übereinander geführt. Das nach Galinskis Tod entstandene Machtvakuum führte nicht zu einer neuen Diskussionskultur, sondern zu einem erbitterten Kampf zweier Linien. Die Gemeindeversammlungen arteten durch ständige Interventionen der Demokratischen Liste und durch akribische Verteidigung jedes Kommas in den Vorstandsberichten zu stundenlangen Marathonsitzungen aus. Die letzte vor der Wahl endete nach sieben Stunden damit, daß der bisherige Vorsitzende der Repräsentantenversammlung, Michael Zehden, nach persönlichen Angriffen auf Kanal und ihn selbst entnervt seinen Posten niederlegte. Anita Kugler