Belgrad versinkt in Elend und Depression

Das Wirtschaftsembargo gegen Serbien „greift“: rapide Verarmung/ Regime stabilisiert  ■ Aus Belgrad Thomas Schmid

Auf der Srpskih Vladara, zu deutsch: Straße der Serbischen Regenten, die bis vor kurzem noch Marschall-Tito-Boulevard hieß, versperrt von morgens früh bis abends spät eine dichte Menschentraube den Bürgersteig. Noch vor wenigen Wochen bildeten sich hier vor der Dafiment-Bank im Zentrum Belgrads jeden Tag lange Schlangen, die sich um zwei Häuserblöcke wanden. Nicht, daß die Kunden weniger geworden wären. Im Gegenteil. Nur stehen sie jetzt stundenlang vor einem Sportstadion am Rand der Stadt an, um eine Nummer zu erhalten, die sie dann berechtigt, Tage später zu einer bestimmten Uhrzeit im Zentrum anzustehen. Der Verkehr, aufgrund des rationierten Benzins ohnehin auf 30 Prozent seines gewöhnlichen Volumens gesunken, fließt seither ungestört durch die Srpskih Vladara.

Die Verlockung ist groß: 280 Prozent Zinsen – pro Monat – verkündet ein Plakat im Schaufenster der Bank. Eine Verdreifachung des Vermögens in knapp 100 Tagen also? Wer so kalkuliert, hat die Rechung jedoch ohne den Wirt gemacht, und der heißt Inflation und frißt den vermeintlichen Gewinn im rasanten Tempo von zur Zeit 320 Prozent – ebenfalls monatlich – weg. Mit dem 50.000-Dinar- Schein, dem größten Geldschein, der erst seit zwei Monaten im Umlauf ist, kann man heute gerade noch einen Hamburger plus Cola erstehen. Da der Kursverfall mit der Inflation Schritt hält, flüchten sich viele Restjugoslawen in die harte Mark, für die sie zur Zeit zwischen 18.000 und 25.000 Dinar hergeben und die die Dafiment-Bank bis vor kurzem noch zu 15 Prozent verzinste – monatlich, versteht sich. Daß das auf die Dauer nicht gut gehen kann, weiß jeder Banklehrling. Und so ist nicht nur die Verlockung, sondern auch die Angst groß. Deshalb wollen die einen ihr Geld schnell vermehren, die andern es rasch abheben, bevor alles zusammenkracht.

Denn nur hundert Meter weiter verkündet ein anderes Plakat im Schaufenster einer andern Bank, der Jugoskandik, eine andere Botschaft. Dort rufen geprellte Gläubiger zu einer Versammlung zwecks gemeinsamer Durchsetzung ihrer Interessen auf. Der Bankier Jezdimir Vasiljević, der in etwas mehr als einem halben Jahr über 300 Millionen Dollar Spareinlagen bilanzieren konnte, hatte Bankrott gemacht und sich am 8.März via Ungarn nach Israel abgesetzt. Danach tauchte eine Woche lang Dafina Milanović, die Direktorin der Dafiment-Bank, jeden Tag in irgendeinem Fernsehbeitrag auf, um ihren Kunden zu signalisieren: Ich hingegen bin noch unter euch. Doch viele befürchten, daß Dafina Milanović das Schicksal Jezdimir Vasiljevićs ereilt.

Wenige Stunden nachdem sich die Menschentraube vor der Dafiment-Bank aufgelöst hat, wird sich einige Straßenzüge weiter eine neue Schlange formieren: vor der Konsularabteilung der deutschen Botschaft. Viele kommen noch mit dem letzten Nachtzug aus der Provinz in der Hauptstadt an, um irgendwann zwischen Mitternacht und Morgengrauen die Reihe der Wartenden zu eröffnen. Wer alle notwendigen Papiere – auch die Einladung eines Gastgebers in Deutschland – beisammen hat und noch rechtzeitig vor Schließung des Konsulats zu den deutschen Beamten vorgedrungen ist, hat gute Chancen, das Touristenvisum zu bekommen. Nur etwa jeder vierte Bittsteller werde abgewiesen, weil – so Gerhard Schrömbgens, Geschäftsträger ad interim, seit der Botschafter vor einem Dreivierteljahr nur zur Berichterstattung nach Bonn gerufen wurde – „der Rückkehrwillen nicht überzeugend glaubhaft gemacht werden kann“.

Monatlich über viertausend Restjugoslawen erhalten die Erlaubnis zur Einreise nach Deutschland. Die Kulanz hat einen besonderen Grund: Viele müssen die ihnen zustehenden Rentengelder abholen, die seit der Verhängung der Sanktionen nicht mehr nach Belgrad überwiesen werden können. Daß einige wenige bei dieser Gelegenheit um politisches Asyl nachsuchen, läßt sich nicht verhindern. Doch die allermeisten kehren in ihre vom internationalen Embargo schwer gebeutelte Heimat zurück – demnächst, so scheint es, allerdings nicht mehr mit der Bahn. Den bundesdeutschen Presseberichten zufolge hat die Bundesbahn den Verkauf von Fahrkarten nach Serbien und Montenegro eingestellt, wegen des Embargos.

Das Gesprächsthema im Belgrader Alltag ist nicht der Krieg, der sich weit entfernt abzuspielen scheint, sind nicht die Verhungernden im nur 200 Kilometer entfernten Srebrenica und schon gar nicht die internationalen Bemühungen, in Bosnien-Herzegowina einen Frieden zu vermitteln. In Belgrad scheint sich alles ums Geld zu drehen. Kein Wunder bei diesen Löhnen. Wer den gesetzlichen Mindestlohn von umgerechnet 60 DM im Monat verdient, wie der Portier in der Militärkommandantur oder die Redakteurin bei Borba, ist noch relativ gut dran. Löhne von 30 und 40 DM sind weit verbreitet, und das bei Preisen, die für Grundnahrungsmittel etwa ein Viertel bis ein Drittel der deutschen betragen. Und das Heer der Arbeitslosen wird täglich größer.

Für viele Familien sind daher die Remittenten ihrer im Ausland arbeitenden Angehörigen die letzte Rettung. Wer keinen Job und keine Verwandten im Ausland hat und nicht mehr weiter weiß, kann sich in einer der gut zwei Dutzend Suppenküchen des Roten Kreuzes verpflegen, die täglich 3.000 Mahlzeiten ausgeben. Mindestens 16.000 wären jedoch vonnöten, schätzt man bei der Hilfsorganisation.

Das Erdölembargo hat zu einem drastischen Rückgang der industriellen Produktion mit den Folgen einer rapiden Verarmung breiter Bevölkerungsschichten geführt. Zudem müssen in ganz Serbien noch etwa eine halbe Million Kriegsflüchtlinge, 130.000 allein in der Hauptstadt, versorgt werden, die zu über 90 Prozent in Privatfamilien untergekommen sind. Im früher so quirligen Belgrad breiten sich Elend und Depression aus. Die Anzahl schlecht ernährter Schwarzhändler steigt, und das Angebot im kulturellen Bereich sinkt. In den Unterschichten kämpft man ums Überleben, und in der Intelligenzija herrscht Katerstimmung. Die Restaurants und Cafés bleiben halb leer und schließen früher als in besseren Zeiten. Belgrad, ohnehin nicht mit Schönheit geschlagen, ist grauer denn je.

Die Sanktionen „greifen“ also, wenn auch vielleicht nicht in dem intendierten Sinn. Opfer sind in erster Linie die unteren Bevölkerungsschichten. Natürlich ist die Situation in den bosnischen Bergen bei weitem dramatischer. Doch die Leute vergleichen ihr jetziges Leben mit dem, was sie kennen, dem früheren also. Natürlich ist die Katastrophe weitgehend hausgemacht, hat der von der politischen Führung Serbiens entfesselte Krieg das Elend und die Flüchtlinge erst produziert. Doch es wäre naiv zu glauben, daß die Betroffenen die Verantwortlichen zur Rechenschaft ziehen würden. Schließlich sind die Flüchtlinge nicht vor Slobodan Milošević, dem serbischen Präsidenten, geflohen, sondern vor Freischärlern oder Soldaten der kroatischen oder bosnischen Armee. Und die verarmten Massen – vor dem Fernseher täglich mit chauvinistischer Propaganda berieselt – wähnen sich eher als Opfer einer internationalen Verschwörung, die ihr Land in die Knie zwingen will, denn als Opfer einer skrupellosen großserbischen Politik. Bei den vergangenen Wahlen hat denn auch vor allem die extrem rechte „Radikale Partei“ Šešeljs von der breiten Unzufriedenheit profitiert. Auf deren Landkarte gehört ganz Bosnien-Herzegowina und über die Hälfte Kroatiens zu Serbien. Die Partei hat 30 Prozent der Parlamentssitze gewonnen und ist an der Regierung beteiligt.

„Da hilft nur noch ein Schock“, meint Zarko Korac, „die meisten Serben leben in einer Traumwelt.“ – Bomben etwa? – Nein, wie so ein Schock aussehen könnte, mag sich der Psychologieprofessor nicht ausmalen. Denn schließlich ist das hier auch sein Land. Aber etwas müsse geschehen, irgend etwas, das – wie die totale Niederlage der Deutschen 1945 – die Serben heute in die Wirklichkeit zurückhole. Die Sanktionen hätten da nichts gebracht.

Daß das Embargo letztlich die Falschen trifft und zudem nur das Regime stabilisiert, davon ist auch der Ethnologe und Essayist Ivan Colović überzeugt. Er hat unter dem Titel „Bordell der Krieger“ gerade ein Buch über Folklore, Mythen und Krieg veröffentlicht. Beide sind ins „Haus der Jugend“ gekommen. Beide gehören sie dem „Belgrader Kreis“ an, zu dem sich an die 500 antinationalistische Intellektuelle – Professoren, Schriftsteller, Künstler, Journalisten – zusammengeschlossen haben. Und genau seit einem Jahr lädt der „Belgrader Kreis“ jeden Samstag zur Debatte. Das letzte Mal ging es um das Verhältnis der Intellektuellen zum Nationalismus, heute heißt das Thema „Leben in Sarajevo“. Den Hauptvortrag hält der frühere Belgrader Bürgermeister und emeritierte Architekturprofessor Bogdan Bogdanović, der Sarajevo mit dem antiken Alexandrien verglich. Wie die antike Metropole mit ihrer berühmten Bibliothek, so sei auch die bosnische Hauptstadt ein Hort der Zivilisation, der nun dem Angriff antizivilisatorischer Kräfte zum Opfer falle.

Über 200 Personen sind ins „Haus der Jugend“ gekommen, im wesentlichen wohl Gleichgesinnte: Neben ergrauten Professoren und gealterten Künstlerinnen auch zahlreiche Aktivisten der Antikriegsbewegung und der „Frauen in Schwarz gegen den Krieg“, Journalisten der oppositionellen Wochenzeitschrift Vreme und Politiker der „Bürgerallianz“ – alles in allem die moralische und politische Elite der aufgeklärten Intelligenzija, soweit sie im Land geblieben ist. An die 200.000 Serben haben in den vergangenen zwei Jahren ihre Heimat verlassen, vorwiegend Leute aus der Generation der Zwanzig- bis Vierzigjährigen, die in ihrem Land für sich keine Zukunft mehr sahen.

„Was können wir übriggebliebenen paar Dutzend Leute schon ausrichten gegen diese landesweite Welle von Chauvinismus“, sagt Zorica Trifunović von der „Antikriegsaktion“ in einem Anflug von Resignation, und eine Freundin von den „Frauen in Schwarz“ bemerkt sarkastisch, daß ihre Veranstaltungen früher von den nationalistischen Kräften wenigstens ab und zu gestört worden seien, während sie heute völlig unbehelligt blieben. Doch sie wissen beide, daß sie weitermachen und sich am Samstag an der Antikriegsdemonstration vor dem Parlament – der ersten seit dem vergangenen Juli – beteiligen werden.

„Es mag sein, daß sich die Lage wieder verhärtet und die Repression gegen Andersdenkende wieder verschärft“, meint der Psychologe Zarko Korac, der der „Bürgerallianz“ angehört, „und dann wird es von Vorteil sein, daß wir uns kennen und daß wir als Opposition nicht bei Null anfangen müssen.“ Daß im heutigen Serbien eine radikal antinationalistische Opposition schlechte Karten hat, weiß er auch, aber: „In diesen Zeiten der Barbarei muß doch jemand die Werte von Menschlichkeit, von Zivilisation, von einem möglichen andern Leben hochhalten – und sei es auch nur für die Zukunft.“