Macht die FDP den Freischwimmer?

Die Partei streitet über ihren Kurs: Die Justizministerin will ein linksliberales Profil, die Fraktionsführung den Lauschangriff/ Alle denken an die Ampelkoalition, keiner redet darüber  ■ Aus Bonn Hans-Martin Tillack

Bonn (taz) – Das alte Wasserwerk in Bonn hat dem neuen Plenarsaal mehr als nur die funktionierende Mikrofontechnik voraus. Auch die verwinkelte Kellerkneipe des Wasserwerks wird den Erfordernissen des Parlamentarismus besser gerecht als das für Kungelrunden viel zu übersichtliche Restaurant im Behnisch-Bau. Ungestört tuscheln läßt sich nur „Bei Ossi“ im Wasserwerk – so wie es einige FDP-Abgeordnete am letzten Mittwoch über ihre Justizministerin taten.

Unerhört, daß sich Sabine Leutheusser-Schnarrenberger eben in der Fraktionssitzung enthalten hatte, als über den Awacs-Kompromiß abgestimmt wurde. Hatte sie nicht schon beim Asylkompromiß zuwenig Begeisterung über das von ihr mit ausgehandelte Ergebnis gezeigt? Sei diese mangelnde Verläßlichkeit, fragten sich die Schnarri-Kritiker um den FDP- Rechtspolitiker Detlef Kleinert, nicht ein wiederkehrendes „Verhaltensmuster“?

Über diese Fragen, so Kleinerts Kollege Jörg van Essen später offenherzig, gebe es in der Fraktion „ganz heftige Diskussionen“ – auch wenn diese Debatten bislang, so räumt der FDP-Mann ein, in Fraktions- und Arbeitskreissitzungen noch nicht so richtig angekommen sind. Nicht der Ort und die Teilnehmer des konspirativen Besäufnisses vom Mittwoch, wohl aber seine Ergebnisse waren – immerhin – zwei Tage später in der konservativen FAZ nachzulesen. Die Justizministerin, wurden da namenlose Freidemokraten zitiert, müsse „auf Kurs“ gebracht werden.

Doch wo verläuft er, der Kurs? Tricksereien wie beim Awacs- Streit passen schlecht zum Bild einer „Vernunftpartei“, wie es der parlamentarische Geschäftsführer Werner Hoyer gerne zeichnen würde. Hoyer, den der designierte Parteichef Klaus Kinkel als FDP- Generalsekretär berufen will, muß deshalb etwas weiter in die Zukunft blicken – und sieht viele ungelöste Fragen. Offen ist nicht nur, mit welcher Koalitionsaussage die FDP ins Wahljahr 1994 gehen wird. Auch über Programm und Personal wird in Bonn heftig gestritten. Nervosität macht sich breit, denn die FDP kann sich nicht sicher sein, ob die Koalition mit der Union erneut genug Wählerstimmen einheimst.

Als Mehrheitsbeschafferin, weiß Hoyer, werden die Freidemokraten im nächsten Bundestag vielleicht gar nicht gebraucht – es sei denn in einer Ampelkoalition mit SPD und Grünen. Die Koalitionsaussage, das sei die „strategische Frage“, meint der FDP-Stratege. Einerseits würde er den Wählern gerne sagen, „wo es lang geht“. Andererseits könnte sich die FDP damit rasch „in eine Sackgasse manövrieren“. Um keinen zu verprellen, will Kinkel die Koalitionsfrage deshalb am liebsten ganz offenlassen. Und die FDP als ganze pflegt zur Ampel zur Zeit noch dasselbe Verhältnis, wie seinerzeit die viktorianische Gesellschaft zum Sex: Nie darüber reden, immer daran denken.

Das gilt auch für das Haus der Justizministerin, wo dieser Tage eine Art Freischwimmerprogramm für die FDP entworfen wurde. Gegen den zu erwartenden nationalistischen Wahlkampf vor allem der Unionsparteien müsse die FDP einen dezidiert „antichauvinistischen“ Kurs setzen, schrieben Schnarri-Mitarbeiter in einem Strategiepapier. Die FDP sollte deshalb entschlossen für ein neues Staatsbürgerrecht eintreten, meint die Ministerin. „Kultur ist immer multi“, kalauerte sie kürzlich vor der bayerischen FDP in Neu-Ulm. Alle Wähler, die sich wegen des drohenden Rechtstrends in der Politik Sorgen machen, müßten vom FDP-Wahlkampf angesprochen werden, verlangen ihre Strategen – und verwerfen nebenbei auch Forderungen nach einem „gesunden“, „selbstverständlichen“ oder „neuen“ Nationalbewußtsein als „gefährlich“.

Das paßt zwar zur Ampel, doch die Union muß sich ebenso attackiert fühlen, wie der Patriotismusrhetoriker Kinkel. Kein Wunder, daß die Schnarri-Strategie den freidemokratischen Koalitionsmanagern um Fraktionschef Hermann Solms suspekt erscheint. Sie setzen eher auf die frischen Gesichter ihres in den letzten zwölf Monaten fast komplett ausgewechselten Personals. Mit Wirtschaftsminister Günther Rexrodt, Kinkel und Schnarrenberger habe die FDP jetzt schon ein „Zukunftsangebot“ im Schaufenster. Das findet Hoyer einfach „prima“.

Aber auch er mahnt mehr Profilschärfe an. Ausgerechnet auf den zentralen Politikfeldern der FDP – Rechtsstaat und Wirtschaftspolitik – sieht er die „größten Defizite“ seiner Partei, übertroffen nur noch vom größten Defizit von allen: der Ökologie. Das sei besonders ärgerlich, analysiert Hoyer, weil gerade die Klientel der FDP ökologisch „sensibel“ sei. Die Gefahr, daß die Leute zu den Grünen abwandern, sei real. Um so schlimmer, daß der FDP inzwischen auch angestammte Wähler weglaufen, weil die Liberalen sich in der Wirtschaftspolitik auf Kompromisse mit der Union eingelassen hatten. „Viele Ärzte“, klagt eine Freidemokratin, seien wegen der Gesundheitsreform „verärgert“.

Was der FDP bleibt, ist der Lauschangriff – und der parteiinterne Streit dafür und dagegen. Die Justizministerin ist dagegen. Kleinert, van Essen und die Fraktionsführung sind dafür. Selbst Hildegard Hamm-Brücher, die Lordsiegelwahrerin des wahren Liberalismus, habe heutzutage Angst, in ihrer Heimatstadt München mit der U-Bahn zu fahren, wird in Bonn kolportiert. Hoyer folgert daraus, die FDP dürfe nicht die „reine Lehre“ vertreten und dabei die „Nöte der Bürger“ ignorieren. Mit einem strikten Richtervorbehalt, so seine Konsequenz, sei der Lauschangriff vertretbar.

Ob diese Forderung noch vor den Wahlen in der Partei und der Fraktion in Bonn durchkomme, sei ein „entscheidender Punkt“, prophezeit ein FDP-Parlamentarier. Jetzt schon drohe aus der „Rechtsstaatspartei“ FDP eine „rechte Staatspartei“ zu werden, warnt der linksliberale Abgeordnete Wolfgang Lüder. Der Streit um den rechten Kurs, so seine Befürchtung, könnte am Ende auch die bei der Parteibasis so beliebte Schnarrenberger demolieren.

Direkte Kritik übt die Fraktionsführung an ihr noch nicht. Aber, so lautet der Vorwurf, sie umgebe sich im Ministerium mit den falschen Leuten. Lüder warnt seine Justizministerin eher vor falschen Freunden in der Fraktion. „Da gibt es einige“, sagt er, „die wollen die absägen.“