Lauter nette Lebewesen

„Das Dschungelbuch“ und „Der Zauber von Oz“ wieder im Kino – Comeback der Helden des New Deal  ■ Von Harald Fricke

Zwischen „Streetfighter II“ und Reality-TV träumt es sich nur noch schwer von bezaubernden Helden, göttlichen Übervätern oder bösen Hexen. Der Traum ist als ein Programm unter vielen übriggeblieben; quasi redundant geworden. Statt sich mit der eigenen Phantasie zu bewaffnen, lernen die Kids am „Game Boy“, wie die Wirklichkeit am besten kontrolliert werden kann: per Knopfdruck. Das bucklicht Männlein heißt heute „Super Mario“.

In den dreißiger Jahren hatte das Kino keine Schwierigkeiten, die Lücke zwischen Wunsch und Wirklichkeit zu füllen. Über „The Wizard of Oz“, MGM's Versuch, neben allen Mammutproduktionen auch einen „Kunstfilm“ zu präsentieren, wurde anläßlich der Premiere am 16. August 1939 in Variety berichtet: „Märchen müssen einfache Wahrheiten lehren, und Oz hat eine Botschaft, die genau abgestimmt ist auf die gegenwärtige Zeit.“ Da war die Erkenntnis, daß alle noch so traumhafte Welt da draußen hinter dem Regenbogen nicht die Geborgenheit des eigenen Heims ersetzen könne. Dafür mußte das Country-Mündel Dorothy in dem zwei Millionen- Dollar Studiospektakel eine Reise ins Zauberland antreten, nur um sich dort, von Heimweh geplagt, eine rasche Rückkehr zu Onkel, Tante und Natur zu erwünschen. Anscheinend spricht zur Wiederaufführung des Films auch 1993 nichts gegen die schlichte Einsicht, daß ein bißchen Oz in jedem Vorgarten verborgen liegt, wenn man nur tief genug gräbt. Eigentlich eine hausbackene Binsenweisheit, für deren Einlösung ursprünglich der notorisch süße Leinwandfratz Shirley Temple vorgesehen war.

Doch die Fox-Studios sahen keine Notwendigkeit, ihren pausbäckigen Kinderstar an eine Fremdproduktion auszuleihen, und so mußte MGM nach den eigenen Sternchen greifen. Ihre Wahl fiel auf Judy Garland, die zwar eine dahinschmelzende Stimme besaß, aber ansonsten bis dato eher glücklos durch sieben Musicals gehupft war. Mit Judy Garland als kulleräugige Dorothy, die mit ihrem spätpubertären Körperbau – in ein knappes Karokleidchen verpackt – sogar ein wenig unschicklich wirkt, wurde aus der ohnehin etwas angekitschten Ausreißer-Mär des Wizard of Oz eine illustre Satire auf die Welt der Phantasie, die insgeheim nur das Alltägliche verdoppelt. Ein erstrebenswertes Jenseits wie das, was Alice hinter den Spiegeln fand, gibt es nicht.

Dorothy erkennt in den Figuren des Zauberreiches Oz alte Bekannte, Bauersburschen aus der vertrauten Einöde des mittleren Westens, wieder, deren sonst eher kleine menschliche Schwächen im Zeichenreich dramatisch überspitzt werden. Allein der allmächtige Magier und Herrscher der Smaragdstadt wird sie zurechtbiegen. Sowohl die Leiden der Fabelwesen als auch deren therapeutische Aufarbeitung sind aus dem wirklichen Leben bekannt: Der Vogelscheuche mangelt es an Verstand, dem Zinnmann fehlt das Herz, und der Löwe ist nichts weiter als ein Hasenfuß, dem die Feigheit das Leben zur Qual macht. Dabei philosophiert der Strohmann jedoch munter über Sein und Zeit, der Tinman steppt im Blechanzug wie ein junger Gott und singt melancholische Maurice-Chevalier-Lieder, und der Löwe ist in seiner Feigheit listenbeschlagen wie sonst nur Odysseus. Sie können nur sich selbst nicht erkennen, bis ihnen der allgewaltige Wizard, seines Zeichens auch nur Herrscher über einen gigantischen Illuminationsapparat, symbolische Orden überreicht, die ihnen Intelligenz, Liebesfähigkeit und Mut bestätigen. Man mußte nur an den Platz glauben, der einem zugewiesen wird – und schon wirkte der New Deal Wunder.

Es ist weniger die Story, die an Oz fasziniert, als vielmehr der ganze Studioschnickschnack, mit dem MGM das biedere Märchen zum psychedelischen Musical aufgerüstet hat. Schon in der Anfangssequenz spielt der Film mit der Wahrnehmung. Die ausgedörrte Studiolandschaft somewhere in Kansas ist zunächst in scharf konturiertem Schwarzweiß-Celluloid gehalten, so daß zwangsläufig ein expressionistischer Effekt ähnlich dem von Fritz Langs künstlichen Interieurs entsteht. Der Acker löst sich in einer gemalten Bühnendekoration auf, die stärker aus der Trickkiste des Illusionismus schöpft als die ganze monumentale Drogenarchitektur im bonbonfarbenen Oz. Mit einem Schlag auf den Kopf beginnt Dorothys ohnmächtige Reise ins Märchenland, von dem sie vorher nur aus einem lullaby, einem Schlafliedchen gewußt hatte. In der Bewußtlosigkeit geht der Traum ganz sacht und behutsam in Wirklichkeit über, so wie sich allmählich der Geist der schlafenden Dorothy von ihrem Gesicht in der Überblendung löst. Auch der plötzliche Wechsel von schwarz-weiß zu Technicolor wird liebevoll herausgezögert. Die bunte Welt setzt nicht im direkten Anschluß an die Wiederbelebung Dorothys in der Traumwelt ein, sondern ein wenig später, als sie die Wohnungstür öffnet und das Munchkinland betritt: Es ist eine Frage der Wahrnehmung, nicht der Befindlichkeit.

Der Rest ist eine anderthalbstündige durchgeknallte Revue zwischen Schlumpfhausen, griechischer Mythologie und LSD-Trip. Dorothy begegnet animierten Blumen aus den Metamorphosen des Ovid, verbündet sich mit einer guten Fee, die einer rosa Bubblegumblase entsteigt, lernt gerne Punk- Zwerge kennen und Kinder, die aus türkisen Eiern schlüpfen, kämpft mit Irokesenaffen und darf gleich zweimal durch Zufall der bösen Hexe den Garaus machen, die mit den erstaunlich scharfen Sätzen auf den Lippen verendet: „Wer hätte gedacht, daß ein so liebreizendes kleines Mädchen mir meine wunderbare Bosheit verdirbt?“ Dabei will die Extra-Terrestrin wider Willen die ganze Zeit doch nur zurück nach Hause, ans andere Ende des Regenbogens.

Auch in den Walt-Disney-Studios hatte Wolfgang Reitherman sich 1967, ein Jahr nach dem Tod des Großcartoonisten, bei der Herstellung des „Dschungelbuch“ auf die genau mit der gegenwärtigen Zeit abgestimmte Botschaft eingezeichnet. Wo noch an den wildesten Tagen von Donald Duck und Felix the Cat der speedige Wahnsinn in Toonland tobte, dominiert hier die Moral des von Rassenunruhen und Jugendrebellion geplagten Amerikas. In diesen Entscheidungen war Disney selbst schon in den vierziger Jahren politisch überkorrekt gewesen, wo er als einer der ersten vor dem McCarthy-Ausschuß gegen andere Filmschaffende wegen anti- amerikanistischer Umtriebe aussagte. Der Animationsfilm, sehr frei nach Motiven der „Mowgli-Stories“ von Rudyard Kipling adaptiert, springt ähnlich zielstrebig zwischen der stilisierten Welt im weitgehend unberührten Kinderzimmer und dem Strudel der tagespolitischen Geschehnisse hin und her. Für Mowgli führt die Reise durch den indischen Urwald zu der Erkenntnis, daß er ein Fremder unter all den bunten Lebewesen bleiben wird. Sein Platz ist im Dorf am anderen Ufer, vom vermeindlich linkischen Wildwuchs im multikulturellen Tierreich getrennt – an der Seite einer ihn liebenden Frau. Es dauert bald 75 Zeichentrickminuten, bis der 10jährige Stromer – auch im Kino – seine wirkliche Bestimmung zu verstehen lernt. Er solle sich nicht zuviel einbilden, warnt der erzieherische Jesuiten-Panther Baghira den übermütigen Noch-Wolfsjungen schon zu Beginn des Films.

Wie in Oz entwickelt sich auch das Dschungelbuch zunächst einmal als Jugendtraum von paradiesischer Pracht. Als Baby von weniger gutherzigen Hindus ausgesetzt, wächst Mowgli im Wolfsrudel auf, bis sich nach zehn Regenperioden plötzlich die Nachricht verbreitet, daß der gemeingefährliche Tiger Shir Khan nach dem Jungen Ausschau hält, um ihn zu töten. Denn ein Mensch wird immer zum Jäger. Homo tigris lupus est. Da will die nicht minder schlaue Bestie überlebenstechnisch vorbeugen. In mehreren Musical-Episoden wird der Knabe von Baghira aus dem Urwald hinauskomplimentiert, vorbei an der zaghaften killenden Boa Kaa, einem preußischen Elefanten-Bataillon und aufmüpfigen Affen – lauter nette Lebewesen.

Im swingenden Affenstaat ließen die Sauberträumer aus dem „Magic Kingdom“ Disneys unter der Fassade fröhlicher Ausgelassenheit die „Revolution of Mind“ (James Brown) lauern. „Gib mir das Feuer, damit ich so sein kann wie du“, fordert Orang-Utan-King Louie vom Menschenjungen das Mittel zur prometheischen Gleichberechtigung. Auch im Kratzbaß des jazzsingenden Klaus Havenstein klingt das nett anmutende Lied von der Erleuchtung des Affen schwer nach Rancune gegenüber der vermaledeiten Koexistenz aller Säugetiere, vor allem der aus Harlem. Manchmal ist auch die Übersetzung an der Verunklarung schuld. Das legendäre „Probier's mal mit Gemütlichkeit“, vom sorglos-selbstgenügsamen Bären Baloo dahingesungen, pries im Original die bare necessities of life. Genau diesen Bären aber läßt sich Mowgli aufbinden: Am Ende behält der Dschungel-Boy tatsächlich mit der Flamme die Oberhand im Königreich der wilden Tiere und setzt sich zur vollständigen Domestizierung mit einer weiblich lockenden Punjiab-Lolita ins nahegelegene Dorf ab, ganz wie es die nackten Zwänge des Lebens laut Urvater Darwin von ihm verlangen. Und die Urwald-Gesellschaft geht wieder weiter ihres niederen Weges, nicht ohne über den Wilhelm-Meisterlichen Wandel des Knaben zu schmunzeln. Damit war Disneys Lehrauftrag erfüllt. Die Freundschaft zum Reich der Tiere wird in die Realität der Lebensumstände zurückgeführt, denen sich sowohl Oz als auch das Dschungelbuch erst ganz behutsam zum Schluß nähern. Schließlich wollte man die Kinder im Kino nicht aus dem Traum in die Wirklichkeit zurückschubsen, so wie man sonst nur mit Eiern verfährt: abschreckend. Harald Fricke

„The Wizard Of Oz“ von Victor Fleming, USA 1939, mit Judy Garland, Frank Morgan; „Dschungelbuch“ von Wolfgang Reitherman / Walt Disney-Productions, USA 1967