Hausmüll kommt künftig in den Ofen

Was ist gefährlicher: Luftverschmutzung durch Verbrennen oder Grundwasserverseuchung durch Deponieren?/ TA Siedlungsabfall gibt den Müllverbrennern Aufwind  ■ Von Hermann-Josef Tenhagen

Berlin (taz) – Die Pyromanen haben gewonnen, zumindest diese Schlacht. Nachdem der Bundesrat die sogenannte Technische Anleitung (TA) Siedlungsabfall im Februar verabschiedet hat, zeigen sich die Anhänger der Müllverbrennung auf den Frühjahrstagungen der Umweltindustrie zufrieden. Sie hatten sich nach langem Kampf mit ihrem Konzept der Restmüllbehandlung durchgesetzt. In spätestens 12 Jahren muß aller deutscher Hausmüll – die Hälfte der heutigen Menge, hoffen die optimistischen Verordnungsschreiber – zuerst in den Ofen, bevor er auf der Deponie landet.

Pars pro toto ist an dieser Stelle der Chef des Umweltbundesamtes (UBA), Heinrich von Lersner, zu nennen. Seit ein vom UBA in Auftrag gegebener Systemvergleich ergab, daß „auch beim Hausmüll die vorherige Verbrennung der direkten Deponierung vorzuziehen ist“, setzt sich der um ein deutliches Wort selten verlegene UBA-Chef vehement für weit mehr Müllöfen in der Republik ein. 50 bis 75 neue Öfen hält er für notwendig, um die TA Siedlungsabfall umzusetzen – Kosten: 25 bis 40 Milliarden Mark.

Kritikern, die die Müllverbrennung nach wie vor für des Teufels halten, bescheinigt er auf dem Umwelttechnologieforum UTECH in Berlin, daß bei ihnen „irgend etwas im ökologischen Alphabet nicht zu stimmen“ scheine. „Ganze Stadträte laufen sich die Hacken wund, um eine Chemiefabrik ins Städtchen zu holen, wehren sich aber, von Schwarz bis Grün, wenn eine Müllverbrennunganlage gebaut werden soll – die doch nichts anderes ist.“

Insbesondere in Baden-Württemberg kann man nicht buchstabieren, glaubt von Lersner. Da werde geschwätzt, daß die Chip- Fabrikation des Computerriesen IBM in Sindelfingen durch die geplante Müllverbrennungsanlage im benachbarten Böblingen gefährdet sei. „Bei der Luft in Sindelfingen“ seien mögliche Verschlechterungen durch eine Müllverbrennungsanlage „nicht meßbar“, so Lersner knapp – von wegen Reinstluftbedingungen.

Es handelt sich bei dem Projekt Böblingen zwar nicht um eine Hausmüllverbrennungsanlage, aber das Beispiel ist dennoch illustrativ für die Entscheidungsfindung in einem so sensiblen Bereich. In der einst reichsten Kommune der Republik hatte der Chef von IBM Deutschland angedroht, eine neue Fabrikation nicht zu bauen, wenn die erste baden-württembergische Sondermüllverbrennung im Nachbarort gebaut werde. Nachdem IBM-Chef Olaf Henkel und DIHT-Präsident Heinz Peter Stihl, interveniert hatten, schickte Baden-Württembergs Wirtschaftsminister (!) Dieter Spöri (SPD) die geplante MVA erneut auf den Prüfstand. Der Minister befand: „Die Anlage gehört nicht dahin.“ Umweltminister Harald B. Schäfer, ebenfalls Genosse, mußte seine Standortpläne für den ersten Sondermüllofen des Musterländles zurückstellen. Höhnten die südwestdeutschen Jusos in der FAZ: „Entweder die Sondermüllverbrennung ist gefährlich, oder nicht.“ Und in Bonn rechnete das Umweltministerium den Politikern aus Baden-Württemberg mal wieder vor, daß im Südwesten zwar ein Gutteil des republikweit zu verbrennenden Sondermülls entsteht, daß sie aber in der Entsorgung ihres Giftes weit hintendran seien.

Hintendran ist auch vornedran. Baden-Württemberg gilt als eine der Hochburgen des Bundesverbandes „Das andere Müllkonzept“. Die Bürgerinitiativen haben mit besonderer Hingabe den Bau neuer Müllverbrennungsanlagen und Deponien verhindert. Zum Teil aus Sorge vor den gesundheitlichen Konsequenzen der Müllöfen, zum Teil aber auch schon mit dem politischen Kalkül, daß sie nur so genug Handlungsdruck auf Industrie und Politiker ausüben können, mit der Abfallvermeidung endlich zu beginnen.

Während das Bundesumweltministerium und die Anlagenbauer nämlich darauf beharren, daß neue Müllverbrennungsanlagen nach der entsprechenden Verordnung zum Bundesimmissionsschutzgesetz nur noch Dioxine in vernachlässigbaren Mengen in die Luft blasen, weisen kritische Toxikologen darauf hin, daß es bislang noch keine MVA gibt, die die niedrigen vorgeschriebenen Grenzwerte im Dauerbetrieb einhalte. Für andere Giftstoffe würden zudem nicht ähnlich strikte Grenzwerte vorgeschrieben, häufig würden sie nicht einmal gemessen. Eine Müllverbrennungsanlage gleiche daher einer Giftküche, in der 500.000 verschiedene Stoffe verbrannt werden, niemand aber weiß, wie viele neue Stoffe dabei entstehen.

Solche Stellungnahmen nähren die Skepsis kritischer BürgerInnen. „80 Prozent der organischen Verbindungen, die aus einer MVA emittiert werden, sind heute unbekannt“, hat etwa Erika Barwig vom Vorstand „Das bessere Müllkonzept“ bei der Diskussion gelernt. Langfristig gravierender noch der andere Einwand: Die TA Siedlungsabfall führe zudem nicht zur Müllvermeidung, sondern zur Müllverbrennung. Eigenverantwortliches Handeln von Bürgern und Kommunen würde durch die Pflicht zur Verbrennung blockiert, so „Das bessere Müllkonzept“ in einer gemeinsamen Erklärung mit anderen Umweltverbänden. Barwig drohte: Nach der Verabschiedung der TA Siedlungsabfall werde der Widerstand gegen die „organisierte Verantwortungslosigkeit der Politker“ eher zu- als abnehmen.

Der Widerstandswille ist ernst zu nehmen, der Erfolg der Initiativen an den Standorten gewaltig, in der Sache aber bislang eher gemischt. Zwar konnten sie den Bau vieler Müllanlagen verhindern, die Stadtväter und Regionalpolitiker ließen sich aber häufig genug nicht auf den harten Weg der Müllvermeidung zwingen, statt dessen ließen sie – nach dem Motto: Aus den Augen, aus dem Sinn – Haushaltsabfälle zum Beispiel aus Baden-Württemberg nach Frankreich, aber auch in den deutschen Osten schaffen.

Angesichts der scharfen Opposition gegen die Müllverbrennung im Land sieht der Stuttgarter Umweltminister Schäfer die TA Siedlungsabfall weit skeptischer als UBA-Chef von Lersner. Zur Hausmüllverbrennung, wie sie die TA Siedlungsabfall vorsieht, hatte der SPD-Minister ein Gutachten beim Heidelberger Institut für Energie- und Umweltforschung (IFEU) in Auftrag gegeben. Die kritischen Gutachter kommen beim Vergleich von Müllverbrennung und direkter Deponierung zwar zum gleichen Ergebnis wie UBA-Chef Heinrich von Lersner. Im Gegensatz zu von Lersners Äußerungen glauben sie aber, daß für die Abwägung der Risiken von Müllverbrennungsanlagen gegen die kalten Müllbehandlungsverfahren der Gärung und Rotte „derzeit eine solide Bewertungsgrundlage fehlt“. Die TA Siedlungsabfall bewertet und sagt: verbrennen.

Bei der kalten Behandlung von Haushaltsmüll sei das Krebsrisiko durch die Abluft wesentlich geringer, das Risiko einer Krebserkrankung durch Verunreinigungen des Abwassers aber wesentlich höher. Die IFEU-Wissenschaftler rechnen mit sieben zusätzlichen Krebstoten auf eine Million Einwohner, die ihr Leben lang in der Abluftfahne der MVA wohnen, und neun zusätzliche Krebstote pro eine Million Menschen, die ihr ganzes Leben von der Deponie kontaminiertes Grundwaser trinken.

Die IFEU-Wissenschaftler machen aber vor allem noch einmal auf einen Punkt aufmerksam: „Während das Risiko mit der Abluft einer Müllverbrennungsanlage in erster Linie die Generation trifft, die die Entstehung des Mülls zu verantworten hat, sind vom Belastungspfad Sickerwasser in der Regel nachfolgende Generationen betroffen.“ Wem man die Müllrisiken aufbürden wolle, sei eine ethisch-politische Frage. Der Auftraggeber Minister Schäfer rettete sich vor dieser Anforderung in ein entschiedenes „sowohl als auch“: „Die Müllverbrennungstechnik darf nicht obligatorisch werden.“ Sogenannte kalte Verfahren müßten eine Chance bekommen, wenn nicht in der jetzt verabschiedeten Verordnung, so durch eine „Dynamisierung“ derselben. Über 20 Jahre nach der Mondlandung müßten doch auch in der Müllbehandlung „eine Weiterentwicklung der Technik und zukunftsweisende Verfahren“ möglich sein.

Modern sind die Konzepte wirklich nicht. Statt dessen lautet die politische (und ökonomische) Frage bislang: entweder Müll verbrennen wie in der Steinzeit oder Müll sortieren wie im Mittelalter. Verbrennungsbefürworter und -gegner streiten sich inzwischen auch in der Industrie. Zu den Verbrennungsgegnern gehören seit neuestem privatwirtschaftliche Abfallentsorger. Die bangen nämlich um die Amortisierung ihrer Investitionen in die stofflichen Sortiersysteme, wenn die großangelegte Verbrennung jetzt durch die Hintertüre wiederkommen sollte. Mehr noch als die TA Siedlungsabfall beunruhigt sie eine geplante EG-Verpackungsrichtlinie, die auch beim Verpackungsmüll die Verbrennung wieder gesellschaftsfähig machen soll. „Wenn wir Kunststoff separieren und handhabbar machen, muß ein Markt dafür da sein“, so Hauptgeschäftsführer Frank-Rainer Billigmann. Die Folge der angekündigten EG- Verordnung sei nur Unsicherheit über die Auslastung der Sortieranlagen, ein „Investitionsstau“. Die britische Regierung beklagt sich schon jetzt, daß die in Deutschland vom Dualen System gesammelten Plastik- und Papierberge den heimischen Markt für solche Produkte kaputtmachen würden. Briten und Italiener möchten nicht nur, aber auch aus diesem Grund die Verbrennung wieder zulassen.

Einen Verbündeten haben sie in der deutschen chemischen Industrie: Früher konnte sie ihre Plastikprodukte einfach verkaufen und dann vergessen. Jetzt leidet ihr Kunststoffabsatz unter dem Stigma, daß die Plaste schwer stofflich zu entsorgen ist. Alle drei großen Chemiekonzerne haben in ihren Plastiksparten im vergangenen Jahr Einbußen hinnehmen müssen. BASF hat dicke Verluste geschrieben, Hoechst will Kurzarbeit in der PVC-Folien-Produktion einführen. Beim Verpackungsmüll habe der Kunststoffanteil allein in den vergangenen drei Jahren von 40 auf 27 Prozent abgenommen, sagt das Umweltministerium in Bonn. Mit der Verbrennung wären die Chemiekonzerne dieser Sorgen ledig. Daher drücken die Branchen in Brüssel auf die Tube, um über die EG das Verkokeln von Plastik, gerade auch Verpackungsplastik, in Deutschland wieder möglich zu machen.

Wenn das nicht gelingt, steckt die Chemieindustrie erst richtig in der Klemme: Kunststoff hat als billiges vielseitiges Verpackungsmaterial den Markt erobert. Solange Konzerne wie BASF Polyethylen (PE), einen der Massenkunststoffe, einerseits für 90 Pfennig pro Kilo herstellen, Recyclate von PE aber das Drei- bis Vierfache kosten, gibt es keinen ökonomischen Anreiz, wiederverwerteten Kunststoff als Rohstoff zu nutzen. Der recycelte Stoff wird also zu den vielbeschworenen Parkbänken, wandert auf die Halde oder ins Ausland. Die Folge sind weitere negative Schlagzeilen. Entsorgungsprobleme und Schlagzeilen: Diese Kombination verunsichert selbst Firmen, die bislang keine Probleme mit ihren Plastikverpackungen hatten.

Den Rückweg aus der Verbrennung in die Verwertung haben sich die Pyromanen in den Chemiekonzernen selbst abgeschnitten. Weil sich Bayer, BASF und Konsorten bei der Kunststoffverwertung von Anfang an bockbeinig angestellt haben, liegt die Verwertung ihrer Produkte inzwischen beim Dualen System selbst – dort haben andere, der Handel und die Entsorger, das Sagen.