Hauptstadt besiegt Chemnitz

■ Wonach sich Diepgen und Kinkel sehnen, könnte der kleinen Hertha nach dem Halbfinalsieg im DFB-Pokal gelingen: Der Sprung zum absoluten Weltniveau

Berlin. Die Hauptstadtamateure befinden sich auf Siegeskurs. Was Germania Bonn seit Jahren versagt bleibt, es gelang am Mittwoch abend den kleinen, aber feinen Hertha-Amateuren: der Sprung ins deutsche Cup-Finale. Der Ball ist rund, ein Spiel dauert neunzig Minuten, und der Pokal schreibt seine eigenen Gesetze. Bei derart geballter Anarchie sollte es niemanden wundern, wenn das Ever-winning-Team, das immerhin einen Bundesligaklub zur Strecke brachte, im Endspiel auch die Aspirin-Kicker aus Leverkusen besiegte und in der nächsten Saison im Uefa-Cup kickt.

Die rauschende Pokalnacht machte selbst vor den Werbetafeln mit dem Olympiabären nicht halt. Nachdem Tausende ekstatisch geladener Hertha-Fans nach Spielende die Absperrungshürden im Galopp genommen hatten, blieb die Bandenwerbung zurück als Trümmerfeld. Irgendwann hatten die Ordner sich ihrem Schicksal ergeben. Das Spielfeld glich einem blau-weißen Fahnenmeer und mittendrin die Jungs der kleinen Hertha, von den nimmermüden Fans auf den Rängen noch lange nach dem Abpfiff als Helden besungen: „So ein Tag...“

Und er war tatsächlich schön, dieser Fußballtag. Nun gehört es sich für einen Linken freilich, daß sein Herz für den Schwächeren schlägt. Eine Entscheidung, die einem am Mittwoch abend zumindest einen Augenblick schwerfiel. Doch zog man den Ossi-Bonus für die Kicker aus der Stadt mit den drei „O“ ab, blieb als Ergebnis immer noch die zweite Bundesliga – und als Hoffnung, daß es nach dem Zweitligisten Hannover 96 im letzten Jahr heuer ein Amateurverein schafft. Die Hoffnungen der proletarischen Massen mitgerechnet, die auf ihrer Kundgebung einen Lärm machten, als ginge es darum, dem Klassenfeind die Lederhosen auszuziehen. Die neunzig Minuten glichen freilich weniger einem Marxschen als vielmehr einem Drama made in Hollywood. Die Schnitte schnell wie das Spiel, mit einem Spannungsbogen ohne Wendepunkt und einem bereits Minuten vor dem Abpfiff herbeigetrommelten Happy-End. Bengalische Feuer wie weiland die Tifosi vor dem Spiel im Wechsel mit Feuerwerkskörpern, die selbst einem Kreuzberger zum 1. Mai zur Ehre gereicht hätten. Und mitten in diese Mischung aus Ungläubigkeit, Trotz und dem Willen, das Unmögliche realistisch zu fordern, fiel das 1:0 durch Ramelow.

Vorangegangen war einer jener Einwürfe, die seinzeit Manni Kaltz als Ecken nicht besser hätte schießen können. Spätestens nach dem 2:0 durch Sven Meyer gab es dann kein Halten mehr. Der Begeisterungstaifun blies die 60.000 zu Guinness-verdächtigen sieben La- ola-Wellen ohn' Unterlaß, eine schöner als die andere. (Da mußte selbst der skeptische Berichterstatter den Rest an intellektueller Selbstkontrolle zusammenkratzen, um dieser Massenhysterie nicht zu erliegen. Zu seiner Entschuldigung sei allerdings angemerkt, daß sich das Publikum der kleinen Hertha wohltuend von dem Unterschied, das der großen gemeinhin als Frosch im Halse liegt.) Der Schock folgte freilich stehenden Fußes. Elfmeter, gerecht, 2:1. Doch beim Treffereinkommen für die Chemnitzer von 50 Prozent Westniveau blieb es denn auch. „Berlin, Berlin, wir bleiben in Berlin.“ Nach diesem Spiel kann nichts mehr kommen, nicht mal mehr Olympia. Anarchie eben. Uwe Rada

Siehe auch Bericht im Sportteil Seite 19