Mit der Heckenschere

■ Die Schnittke-Oper „Leben mit einem Idioten“ in Wuppertal erstaufgeführt

Quo vadis, Alfred Schnittke? Die Erfolgsleiter zeigt jedenfalls konsequent nach oben: Kompositionsaufträge kommen aus allen Erdteilen, neben und nach Symphonien, Konzerten und Concerti grossi bekam der deutsche Russe Schnittke nun auch die Gelegenheit, seine erste Oper zu komponieren. Nach dem Libretto von Viktor Jerofejew entstand „Leben mit einem Idioten“, 1992 mit phänomenalem Erfolg in Amsterdam uraufgeführt (sein zweites Bühnenwerk „Faust“ ist in Arbeit, wird 1994 in Hamburg präsentiert werden), die Deutsche Erstaufführung war am Sonntag in Wuppertal zu bewundern.

Was geschieht, wenn ein Idiot in die intellektuelle Welt eines russischen Ehepaares einbricht? Die Proust-Apologeten und Systembourgeois werden vom triebhaften Monster geschunden, von nun an diktieren Vergewaltigung, Gewalt und Mord das Leben in der Kommunalka. Eine derb-erotomane, schwülstig-lodernde Metapher für den „Zusammenbruch des Kommunismus“, in dem die barbarische Sowjet-Gesellschaft das Individuum an die Hand nimmt und dieselbe abschlägt, alles in Metro- Goldwyn-Meyer-Farben.

Im Kontrast zu der eingeengten Bühne der Uraufführung läßt Regisseur Friedrich Meyer-Oertel der zweibeinigen Apokalypse freien Lauf. Der Idiot Wowa rast und tobt monoton ächzend mit seinen Fäusten und der Heckenschere über die Bühne, der „Ich- Erzähler“ und seine Ehefrau werden zu Opfern in einem Alptraum, dessen geistige Väter Lenin, Hitler und Stalin sind. Findet der einstige Historiker-Streit heute sogar auf der Bühne statt? Standen die aktuellen Bilder, die das TV in die Wohnstube speit, Pate? Grausamkeit als Amüsement, die Enthauptung per Taschenspielertrick – Sex & Crime pur. Der Zuschauer tauscht in diesem Kunst-Inferno den Fernsehsessel mit der Loge. Und wie selbstverständlich begleitet Schnittke mit souveränem Duktus das Geschehen.

Frei deklamierend, ohne großangelegte Arien, zerfurchen Rezitative das Tableau einer heftigen Tonsprache, die zwei Stunden nicht zur Ruhe kommt. Berge von Klangtrauben, Stampfrhythmen mit Schlagzeug und Bläser, jede kleinste Noten-Zelle explodiert, ohne direkt dem Untergang zuzusteuern. Schnittkes kunstvolle Verbindung von Tradition und Innovation läßt nicht nur Walzer und Tango aus dem groben Netzwerk schimmern, en passant wird die „Internationale“ und „Brüder, zur Sonne, zur Freiheit“ eingewoben (der Emigrant Schnittke kehrte erst Ende 1992 nach Rußland zurück). Bei alledem erwiesen sich die Wuppertaler Sinfoniker (unter der Leitung von Johannes Kalitzke) als hochkonzentrierte Begleiter, zeigte das Ensemble, daß es mit den extrem schwierigen Partien farbenreich umzugehen wußte. Werner Hollweg überzeugte als naiv-animalisches Riesenbaby, John Riley-Scofield als Schriftsteller. Mit schlankem Ton und charmantem Schalk bewältigte er seine Rolle als aufgeschreckter Hausherr – um im Finale verzweifelt zusammengekauert mit gespenstischen Tönen vom Untergang zu künden. Rebecca Littig gab die zickig-burschikose Ehefrau und meisterte ihre technisch höchst anspruchsvolle Rolle (Intervallsprünge) mit Leidenschaft.

Bloß das Publikum zeigte sich wenig begeistert und ließ sich auch nicht umstimmen, als der gesundheitlich schwer angeschlagene Schnittke mehrfach gegen seinen Willen von Regisseur und Bühnenbildner Dieter Flimm auf die Bühne gezerrt wurde. Das von Detlef Gojowy im Programmheft als „perverse Aktion“ interpretierte Opernsujet wurde an diesem Abend wesentlich beschämender außerhalb des Spielgeschehens vorgeführt. Guido Fischer

Alfred Schnittke: „Leben mit einem Idioten“, Oper in zwei Akten. Libretto von Viktor Jerofejew, Inszenierung: Friedrich Meyer-Oertel, Wuppertaler Sinfoniker unter Johannes Kalitzke, nächste Aufführungen 17. und 21.4.