Kollektive Lohnpolitik steht auf dem Spiel

■ Die Kündigung des Tarifvertrages Ost markiert den Beginn tariffreier Zustände

Berlin (taz) – In Ostdeutschland machen die Gewerkschaften mobil. Seit gestern steuert die dortige Metall-, Elektro- und Stahlindustrie in den ersten Arbeitskampf seit mehr als 60 Jahren. Eine riesige Streikwelle rollt zwischen Saßnitz und Suhl an. Eigentlich ein im Rahmen der Tarifautonomie ganz normaler Vorgang, könnte man meinen.

Doch der Konflikt hat mit den üblichen Ritualen der Tarifauseinandersetzungen nicht mehr viel zu tun. Was sind Tarifverträge noch wert, wird nicht nur in fachkundigen Kreisen gefragt, wenn sie jederzeit einseitig aufgekündigt oder ausgehöhlt werden können? Für andere steht das gesamte Tarifsystem auf dem Spiel. Oder blasen die Arbeitgeber gar zum letzten Gefecht gegen die Gewerkschaften, indem sie ihnen mit der betrieblichen Tariföffnung die Daumenschrauben ansetzen?

Mit der in der Geschichte der Bundesrepublik einmaligen Aufkündigung der bis Ende März 1994 laufenden Tarifverträge haben die Arbeitgeber eine Ausgangsposition geschaffen, bei der es um weit mehr als nur um Lohnsteigerungen oder die wirtschaflich desolate Situation der meisten Ostbetriebe geht: Erstmals seit 1928 sind seit gestern weite Teile einer Branche ohne geltenden Flächentarifvertrag – ganz nach dem Geschmack der Neoliberalen im Unternehmerlager, für die die tarifgebundene Preisbildung am Arbeitsmarkt ohnehin längst ein Kartell darstellt. Immer mehr industrielle Arbeitgeber wollen sich durch die freiwillige Verbandsmitgliedschaft nicht mehr tariflich binden lassen, Tarifflucht gehört im Osten inzwischen zur Normalität. Wer, wie die meisten Betriebe dort, derzeit noch alte Produkte mit alten Technologien für alte Märkte herstellt, kann nur über den Preis konkurrieren. Und wo hohe Arbeitslosigkeit herrscht, sind selbst qualifizierte Arbeitskräfte billig zu haben. Die Probleme der Firmen aber löst das noch lange nicht. Selbst wenn die Beschäftigten umsonst arbeiten würden, ließen sich damit keine Abnehmer für die Produkte herbeizaubern.

Doch nicht die Kündigung der Stufentarifverträge, sondern auch die neuen Produktionskonzepte und Schlankheitskuren der Westfirmen brechen die gewohnten Tariffronten auf. Der Abschied vom kollektiven Tarifvertrag, bisher nur eine Randerscheinung, könnte bald zum tarifrechtlichen Flächenbrand werden. In einer faktisch tariffreien Zone braucht es keine Öffnungsklauseln mehr; die Tariflöhne können gleich auf Betriebsebene ausgehandelt werden – ganz in der Tradition frühkapitalistischer Methoden. Und was im Osten klappt, dürfte vielleicht schon morgen als Vorbild für die westdeutsche Stahlindustrie oder die Krisenbranchen Chemie-, Maschinen- oder Automobilbau herangezogen werden: Arbeit außer Tarif, Leistungen je nach der wirtschaftlichen Ertragskraft, Lohn nach betrieblichem Gutdünken. Ein Teil der westdeutschen Metallunternehmen zieht bereits Konsequenzen aus dem ostdeutschen Tarifpoker und will die im vergangenen Jahr vereinbarten Lohnerhöhungen mit übertariflichen Leistungen verrechnen. Die Textilindustrie möchte die ab Mai geltende vierprozentige Lohnerhöhung verschieben, und Arbeitgebervertreter denken schon laut über den Ausstieg aus den Arbeitszeitverkürzungen nach.

Die Metaller geraten bei ihrem Arbeitskampf mächtig unter Druck: Die Bonner Solidarpaktler, die sich bei ihrem Kompromiß nur gegenseitig auf die Schulter geklopft und neue Löcher in den Haushalt gerissen haben, verlangen von den Gewerkschaften ein „volkswirtschaftlich richtiges Verhalten“ (Wirtschaftsminister Rexrodt).

Wie das aussehen soll, ist längst klar: Abschlüsse unter der Inflationsrate, Reallohnverzicht und möglichst noch betriebliche Öffnungsklauseln für notleidende Betriebe. Doch amerikanische Verhältnisse am Arbeitsmarkt bringen auch die Wirtschaft in Gefahr – schließlich hat der breite soziale Konsens über Jahrzehnte hinweg eine nahezu konfliktfreie Entwicklung garantiert.

Ob die nicht streikerprobten 400.000 Ostmetaller den Arbeitskampf allerdings lange durchhalten werden, darüber sind sich selbst die kampferprobten Westfunktionäre unsicher. Ein Teil der Ostmetaller wirft der Frankfurter Zentrale vor, sich nicht vehement genug gegen die Deindustrialisierung in den neuen Bundesländern zu stemmen. Der andere Teil kungelt aus Angst vor weiteren Entlassungen lieber mit den Arbeitgebern. Es gebe nicht wenige Fälle, so ist zu hören, in denen Ostklitschen unter Tarif zahlen, obwohl dies nach dem Tarifvertragsgesetz nicht zulässig ist – manchmal sogar mit Zustimmung der Betriebsräte. Und statt den wirtschaftspolitischen Diskurs zu bereichern, beschränken die Funktionäre ihren Aktionismus auf Kundgebungen. Erwin Single