: Pilgerstätte der Stadtwanderer
■ Das Scheunenviertel: Drei Bücher im Verlag Neues Leben
Gleich drei neue Bücher publiziert der Verlag Neues Leben über den aktuellen Anziehungspunkt für Stadtabenteurer: das Scheunenviertel mit den Nachbarstraßen, die alle zusammen zur alten Spandauer Vorstadt gehörten. Immerhin, seit zwei Jahren hat der Verlag seinen Sitz mittendrin, in der Rosenthaler Straße 36. Der neue Stadtteilführer gibt, in sieben Touren aufgeteilt, Tips für Unscheinbares und Spektakuläres in dieser Gegend – wo früher die Schmuddelecke der Stadt war, wo Kleingewerbe und Kleinkriminelle, Bierbrauereien und Nutten ihre Standorte hatten, wo vor allem aber etwa mit Beginn des Jahrhunderts die Juden aus Polen und Rußland strandeten und vielen Straßen ihr Gepräge von Armseligkeit und orthodoxem Judentum gaben.
Es ist schon ganz putzig zu sehen, daß diverse europäische Städte in dessen Mitte, diverse Dörfchen in der Mitte von Deutschland und etliche Teile Berlins in Stadtmitte zu liegen behaupten. Nach dem Willen der Autoren des neuen Stadtteilführers zum Scheunenviertel (sie bleiben ungenannt) soll sich dort die historische Mitte Berlins befunden haben. Was sie wohl selbst nicht glauben, denn ein paar Seiten weiter ist nachzulesen, daß die Scheunen, die dem Viertel ihren Namen gegeben haben, vor den Festungsanlagen der Stadt außerhalb der Stadtmauern gebaut worden waren.
Hilfreich zur Orientierung sind die Karten in den vorderen und hinteren Umschlagseiten, die den Stadtteil 1920 und 1993 darstellen. Dummerweise hat der Verlag nicht mitbekommen, daß die Wilhelm-Pieck-Straße immer noch so heißt und nicht etwa in Elsässer und Lothringer Straße umbenannt ist. Dafür gibt es – zur Zeit jedenfalls – in der BVV keine Mehrheit. Der Stadtführer, mit seinen übersichtlichen Karten auf den Innenseiten, ordentlich gemacht, führt natürlich zum Touristenmagnet Nr.1, der Oranienburger Straße, bleibt aber häufig im Oberflächlichen hängen. Ärgerlich ist, daß manche Dinge aus der Geschichte, die plötzlich ganz aktuell sind, nur nebulös angerissen werden. Da liest man beispielsweise die Bemerkung, daß ganz in der Nähe der Volksbühne „jenes Polizeirevier (war), in dem die Offiziere Lenck und Anlauf Dienst taten, die 1931 als verhaßte Gegner Opfer eines linksterroristischen Mordanschlags wurden“: Eben wegen dieser Morde vor 62 Jahren steht Ex- Stasi-Chef Mielke seit einem Jahr in Moabit vor Gericht.
Für einen Stadtteilführer etwas ungewöhnlich ist ein Teil des Anhangs, in dem auf Handwerker und Läden hingewiesen wird. Man mag darüber streiten, ob es für den Stadtläufer unbedingt wichtig ist, daß man in der Almstadtstraße 50 Goika Scholz „Rohrreinigung/Sanitärinstallation“ finden kann. Wenn erst einmal die Luxussanierung über das Scheunenviertel hereingebrochen ist, wird man sich aber sicher anhand des kleinen Stadtteilführers wehmütig an die vielen kleinen Läden und Handwerksbetriebe im Jahr 1993 erinnern können.
Mit Corinna Fricke und Peter Kirschey kann die „Geile Meile Oranienburger“ abgeklappert werden. In Gesprächen mit Bewohnern und Werktätigen sehr verschiedener Sparten (natürlich geht es gleich mit dem Straßenstrich los) wird ein psychosoziales Bild der Straße vom Herbst 1992 gezeichnet. Die „Szenereiter“ werden kritisiert, doch stellt das Buch in weiten Passagen gerade für diese Spezies Stadtmensch eine gute Gebrauchsanleitung für einen Kneipenzug durch die Straße dar.
Wer richtig etwas vom Scheunenviertel erfahren will, der lese das Buch von Frank Schumann „Die Szene“, einem Experten, der hier jahrelang gelebt und die Augen offen gehalten hat. Er läßt die Leute reden, zum Beispiel Arnold Munter: Jude, Prolet und Sozialdemokrat, Boxer und Marathonläufer, den die Nazis nach Theresienstadt verschleppten. Heute zieht er mit Touristen durchs Scheunenviertel und erzählt von seinem Leben. Wir erfahren auch etwas von Friedrich Loock, dem stillen, eigentlich unpolitischen Rebell, der schon Anfang 1989 seine Behausung in der Tucholskystraße/Ecke Auguststraße als „Wohnmaschine“ zu einer privaten Galerie machte. Der Besuch in seinem alternativen Kunsttempel bietet auch einen Blick auf die elende Bausubstanz vieler Häuser im Viertel. Autor Schumann ist ein Plauderer, der die Westinfiltration mit Sarkasmus konstatiert. Wessis haben das „Kulturzentrum Tacheles“ fest in ihrer Hand, den großen Teil der neuen Kneipen haben sie sowieso aufgemacht. Windige Westunternehmer trügen zur Auflösung des „Mikrokosmos Scheunenviertel“ bei, der sich zu DDR- Zeiten im Schatten der offiziellen Gesellschaft bewegte und sich durch seine Spannbreite zwischen Kommunismus und Kriminalität der DDR-Geschichtsinterpretation entzog.
In diesem Buch schließlich erfahren wir auch die im Stadtteilführer unterschlagene Geschichte des Bereitschaftsführers des Parteiselbstschutzes der KPD, Erich Mielke, dem die Staatsanwaltschaft vorwirft, am Abend des 9.August 1931 vor dem Kino Babylon im Scheunenviertel die Polizisten „Schweinebacke“ und „Totenkopf“ erschossen zu haben. Auch über den Tod des Nazi-Helden Horst Wessel, Komponist der Nazi-Hymne „Die Fahne hoch...“ gibt Schumanns Buch Auskunft. Es scheint eher eine tödliche Auseinandersetzung zwischen zwei Zuhältern aus dem Scheunenviertel gewesen zu sein, von denen der eine Nazi war, der andere Kommunist.
Zu DDR-Zeiten hatte etliche Journalisten die Verzweiflung gepackt, so daß – nach mehreren Abgängen durch das offene Fenster – das Verlagshaus an der Karl-Liebknecht-Straße sarkastisch „Springer-Hochhaus“ genannt wurde. Jürgen Karwelat
Scheunenviertel Berlin, Stadtteilführer, 96 Seiten, zahlreiche Abb., 12,80 DM
Frank Schumann: Die Szene, neue Geschichten aus dem Scheunenviertel. 188 Seiten, 29,80 DM
Corinna Fricke/Peter Kirschey: Geile Meile Oranienburger. 192 Seiten, 29,80 DM.
Alle Bücher: Verlag Neues Leben 1993, Edition Scheunenviertel
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen