Wand und Boden
: Comic-Nilpferd liest Schopenhauer

■ Kunst in Berlin jetzt: Franz Graf, die Grammings, Peter Bömmels, Sergej Woronzow

Die Souterrain-Galerie Gelbe Musik in der Schaperstraße 11 hätte in den späten fünfziger Jahren ein Heißmangelladen gewesen sein können. Jetzt wird dort Kunst am Tonträger ausgestellt, momentan ist der österreichische Klang-Maler-Konstrukteur Franz Graf zu Gast. Ihn interessiert am Vinyl die Magie der Rotation, jener spiralische Kreislauf, dessen Bewegung beim Betrachten einer Schallplatte sich immer zugleich exzentrifugal und konzentrisch darbietet. Ohne Ziel. Dieses visuelle Phänomen hat Graf in Zeichnungen, Geräusche und Textarbeit umgesetzt. Auf handgezeichneten Plattencovern verweben sich die unterschiedlichsten Zyklen zu verwirrenden Ringerscheinungen als illusionistischer Vertigo-Effekt, mit dem schon Duchamp auf seinen Rotografien seinen verbalen Schabernack trieb. Bei Graf wird die Ziselierung der Hülle jedoch allein formal betrieben. Auch das Schallplattenobjekt an der Wand dreht sich nach einem ähnlichen Prinzip, bei dem der Klang aus der Beschleunigung entsteht, ohne die sonst übliche eingestanzte Information der Schallplattenoberfläche als akustisches Signal wiederzugeben. Der selbstreferentielle Klang beginnt und endet im Rauschen, das fast mit dem Motorgeräusch des Antriebs identisch ist. An der Wand steht dazu das passende Satzfragment frei nach Konfuzius: SCHWEIGEN WIE AUFLEBEN.

Tuschewandzeichnung, bis 30.4.; Di.–Fr. 13–18 Uhr; Sa. 11–14 Uhr

Ein Kreuzberger Galerist kann sich das Lästern nicht verkneifen. Da hat der Kölner Kunstklüngel den Zeitgeist über seine Verhältnisse belebt, und schon müssen die grauen Amtsschimmel der hauptstädtischen Kulturtopfverwaltung die Zeche begleichen. Paul Maenz mußte seine Galerie am Rhein schließen, und prompt bekommt Peter Bömmels den Fred Thieler Preis für Malerei 1993 – 30.000 DM nebst Ausstellung im Martin-Gropius-Bau zuerkannt. Gottes Wege sind eben unerforschlich, wird sich der metaphysische Realist, Reggae-Fan und Spex-Herausgeber, Jahrgang '51, über die ihm widerfahrene Ehre gedacht haben. Allen Unkenrufen im Vorfeld zum Trotz – die Bömmels-Bilder sind ganz sympathisch. Leicht ironisch, wenn auch längst nicht mehr so subversiv wie zu Zeiten der orgiastischen Schneckenburger-Documenta. Auf „3.Oktober 91/92“ gebiert der träumende deutsche Michel das Ungeheuer der neuen Staats-Ordnung auf einem tischähnlichen Plateau zwischen Rhein und Oder/Neiße. Vom Kölner Dom an der Peripherie führt eine Spirale ins Zentrum unter das Brandenburger Tor. Die Geschichte ist an ihrem Ziel, Konrad Adenauer hatte ihren Verlauf einst umgekehrt. Neben der politischen Draufsicht verfügt Bömmels über eine seltsam originäre Farbwahl. Grob als flockige Oberfläche auf Nessel und Jute aufgetragen, erzeugen Orange- und Lilatöne eine giftig halluzinierende Wärme, wenn man die mannshohen Bilder aus der Nähe betrachtet, während die um ihre eigene Achse kreisenden dargestellten Körper alle ein bißchen hohlwangig nach Alien3 ausschauen. Kifferkunst, figurativ.

Bis 25.4., Stresemannstraße 110; Di.–So. 10–20 Uhr

Im Künstlerhaus Bethanien hingegen hält mit Sergej Woronzow eine modernde Punkästhetik Einzug, wie sie so vielleicht nur in Moskau oder den ländlichen Gebieten dieser unserer Republik zustandekommen kann: „Unlustige Bilderchen“. Auf Streichholzschachteln hat der Russe stilisierte Portraits getuscht, gammelnde Erinnerungsfetische sind in einer Objektreihe aus Brotrinden und allerlei angeknabbertem Kinderspielzeug an die Wand genagelt worden; und in einer extra dafür eingerichteten Nische gibt Woronzow Farbtöpfe zum Abschuß mit dem Luftgewehr frei. Es werden schon irgendwie Bilder entstehen. Denn jedes Imageideal/Idealimage, sei's der röhrende Hirsch, die barbusige Bardot oder der schlichte Picasso der blauen Periode, wird von ihm als Bild der Massen angezweifelt, es ist zumindest in seiner abgestimmten Durchschnittlichkeit Zufall. Ein Phänomen des Angebots und der Nachfrage, mit dem sich vom barbusigen Koons bis zum röhrenden Kippenberger alle abgefunden haben. Nicht so Woronzow: Er empfindet zeitgenössische Kunst als „paranoid delirium“, in dem ihre wesentlichste Aufgabe verlorengegangen zu sein scheint.„Art should impose punishment“, Kunst soll eine Bestrafung auferlegen. Das äußert der Russe weniger zynisch, sondern mit der ödipalen Begeisterung des zornigen jungen Mannes. So hat er hölzerne Untersetzer mit schulbuchmäßigen Zeichnungen über das Appetenzverhalten von Hunden bemalt, dahinter Fotos, auf denen ein Kind als Cowboy und Chemielaborant posiert, so wie Eltern sich eben ein Bild ihres heranwachsenden Erzeugnisses entwerfen. Die Ausstellung führt die traurigen Allegorien einer entfremdeten Kindheit in Moskau vor, deren Darstellung von schlichter Derbheit gekennzeichnet ist. Ein knuddeliges Comic-Nilpferd liest auf Pop- Art-Drucken Schopenhauer, für Bilder aus dem Knigge muß die gegerbte Haut eines Hausschweins herhalten. Am Ende dürfen auch die kleinen zotigen Knabenphantasien nicht fehlen: Ein zufälliger Stich mit der Stopfnadel in den Hintern der vorbeieilenden Schwester ist obszöner als jede nachgestellte Nacktgeste eines noch so angesagten Body-Artisten. Hilflos und feierlich. Entweihend. Draußen schläft die Aufsicht in aller Seelenruhe. Es ist Woronzow selbst. Wovon mag er träumen – von seiner Mutti? Harald Fricke

Bis 11.4., Studio III, Mariannenplatz 2; Di.–So. 14–19 Uhr