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Fingernagel-Spuren als Signale

■ Help-Bibliothek zeigt Bücher aus Stasi-Gefängnissen

Lichtenberg. Die Täter haben deutliche Spuren hinterlassen; die der Opfer sind schwächer. Es sind keine Mauern oder Festungen, die an die Schicksale der Häftlinge in den Stasi-Untersuchungsgefängnissen Hohenschönhausen und Pankow erinnern, es sind kaum sichtbare Spuren von Fingernägeln. Zum Beispiel in der Ausgabe von Dickens' „Große Erwartungen“, die sich äußerlich nur durch die Registrierung der Gefängnisbibliothek von Tausenden anderen unterscheidet. Im Inneren aber findet man kleinste Zeichen, die die Bedeutung des Werkes für seine Leser deutlich macht: Einer der Insassen hat mit dem Nagel die Worte „Rein ins Gefängnis!“ unterstrichen. Und etwas später: „Nichts hat man mir erspart.“ Noch weiter unten: „Ich bin eigentlich im Gefängnis aufgewachsen.“ – Spuren dieser Art finden sich in den 8.000 Bänden aus den Gefängnisbüchereien, die in der Forschungsbibliothek der Hilfsorganisation für Opfer politischer Gewalt in Europa (Help) gesammelt sind. Seite für Seite untersucht und katalogisiert sie eine Bibliothekarin für spätere Forschungen. 550 Bücher hat sie im ersten halben Jahr geschafft, Arbeit bis zur Jahrtausendwende ist garantiert.

Deren Finanzierung ist noch nicht sichergestellt, doch seit gestern können sich die Verantwortlichen von Help zumindest auf die Unterstützung von Prominenten berufen. Zur Eröffnung der Bibliothek sagte Joachim Gauck, Bundesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen, die Bücher und ihre Geschichte seien „Merkzeichen“, die an die Hoffnungen und Sehnsüchte in Kerkermauern erinnerten. Für den Bundestagsabgeordneten Wolfgang Ullmann macht die Bibliothek die Sprache der Opfer hörbar – selbst, wenn sie sich in der merkwürdigen Form von Fingerabdrücken äußert.

Der Präsident von Help, Carl- Wolfgang Holzapfel, sagte, durch die Forschungsbibliothek werde die Möglichkeit geschaffen, sich wissenschaftlich mit der Psyche und dem Kommunikationssystem von Gefangenen auseinanderzusetzen. „Die Menschen nutzten den winzigen Spielraum, um Signale zu setzen.“ Zum Beispiel in Büchern, mit denen sich Menschen über ihre Situation trösteten, in denen sie aber auch Hilferufe und Erinnerungen an ihr eigenes Leid hinterließen. nig

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