Anderthalb Millionen Fahrpläne überklebt

■ Schließung der Spandauer Schleuse bringt Schiffsverkehr durcheinander/ Langer Umweg für Ausflugsdampfer und Sportboote/ Reeder prüfen Recht auf Schadensersatz

Rechtzeitig zum Saisonbeginn nutzten die Manager der Stern- und Kreisschiffahrt die Gelegenheit, vor einem ausgesuchten Publikum für ihre Ausflugslinien zu werben. Während der Internationalen Tourismusbörse brachten sie 10.000 frischgedruckte Fahrpläne unter die Leute. Auf die neue Broschüre können sich die Messebesucher allerdings nicht verlassen, denn auf einigen der in dem Prospekt aufgeführten Routen wird kein Ausflugsdampfer mehr fahren und viele der ausgedruckten Fahrzeiten kein Kapitän mehr einhalten. Der Grund dafür: Durch die Schließung der Spandauer Schleuse – Mitte März wegen Einsturzgefahr verfügt – sind die direkten Verbindung von Ober- und Unterhavel unterbrochen und die jahrzehntelang gefahrenen Ausflugsrouten unmöglich geworden.

Aus den Seitenwänden sprudeln Wasserfälle

Nicht nur die Stern- und Kreisschiffahrt mußte auf 1,5 Millionen Fahrpläne Berichtigungen kleben, weil die „Große Havelseen- Rundfahrt“ und die „Ausflugsfahrt nach Werder und zurück“ nun gestrichen sind. Andere Reeder müssen ihre Flotte ebenfalls umdirigieren. Kalt erwischt wurden von der Nachricht über die Schließung auch Transportschiffer, Freizeitkapitäne, Wassersportler, Berufsfischer. Sie alle sind gezwungen, einen rund dreistündigen Umweg über Spree und Hohenzollernkanal durch zwei andere Schleusen zu nehmen, wenn sie etwa vom Wannsee nach Tegel gelangen wollen. Im vergangenen Jahr wurden in Spandau nicht weniger als 12.000 Transportkähne, 2.200 Fahrgastschiffe und 155.000 Sportboote geschleust.

Die Fernschiffahrt nach Polen, die bislang das Nadelöhr mitten in Spandau passieren mußte, kann den Zeitverlust verkraften. Touristen und Erholungssuchende aber sind nicht auf die eher öde Ersatzstrecke zu locken, die an Westhafen und Flughafen Tegel vorbeiführt. Denn eine Rundfahrt von Tegel nach Potsdam, wie sie bislang angeboten wurde, würde mit dem Umweg über den Hohenzollernkanal den eiligen Touristen schlicht zu lange dauern.

Die zwischen Spandauer Altstadt und Zitadelle gelegene Schleuse aber ist mit ihren 80 Jahren so marode, daß sie nach Auskunft von Fachleuten jederzeit zusammenbrechen könnte. Der Schleusenboden, so ergab ein aufwendiges Gutachten, besteht nur aus einer 60 Zentimeter dicken porösen Betonschicht, in die drei Bombentreffer im Zweiten Weltkrieg zudem noch Risse geschlagen haben. Die Seitenwände sind so durchlässig, daß bei Trockenlegung kleine Wasserfälle durch den Beton sprudeln. Und auch das stählerne Wehr, das seit den Bombenangriffen schräg in den Lagern hängt, ist längst spröde geworden. Fünf Jahre wird die Sperrung dauern, denn die Verbindung zwischen Ober- und Unterhavel kann nur durch einen Neubau wieder hergestellt werden.

Der malerische Anblick, den die Schleuse bietet, verrät nur wenig von ihrer Bedeutung für den Wasserverkehr in Berlin. Die Diskussion über die Zukunft der Anlage mit ihrem an einen Bahnwärterbau der Jahrhundertwende erinnerndes Schleusenhaus beschäftigt Verkehrsplaner schon länger als 20 Jahre. Noch aus den späten 60er Jahren stammt der Plan, das Spandauer Nadelöhr durch den Bau einer zweiten, größeren Schleusenkammer zu beseitigen.

Aber weil das Ost-Berliner Wasseramt damals die Betriebsbefugnis über die Anlagen der ehemaligen Reichswasserstraßen wahrnahm, mußte der Senat erst einmal die westalliierten Schutzmächte um die Erlaubnis bitten, mit der DDR zu verhandeln. Auch der heute amtierende Regierende Bürgermeister schaltete sich in den 80er Jahren in die Verhandlungen ein und sprach mit einem inzwischen im chilenischen Ruhestand lebenden Staatsratsvorsitzenden über den Spandauer Wasserweg.

Zum Glaubenskrieg aber artete die Schleusendebatte aus, nachdem das Abgeordnetenhaus 1986 für den Bau einer zweiten Kammer gestimmt hatte. In Spandau wurde der Plan mit dem Argument abgelehnt, die Arbeiten würden zu Grundwassersenkungen und damit zu einem Abrutschen der gesamten ehrwürdigen Zitadelle führen. Von dem erfolgreichen Bürgerbegehren, das sich zwei Jahre später gegen eine zweite Kammer aussprach, zeugen noch heute Graffitis an den Wänden alter Spandauer Häuser („Kein Schleusen-Neubau“). 1989 nahmen SPD und AL sogar einen Satz in ihre Koalitionsvereinbarung auf, wonach die Spandauer Schleuse nicht gebaut werden sollte.

Wer heute auf der Schleuse Dienstherr ist, macht unmißverständlich der Bundesadler klar, der am Tor zu der Anlage grimmig jeden Besucher fixiert. Die Hiobsbotschaft über die plötzliche Schließung verkündete denn auch Heinz-Jürgen Pohl vom Wasser- und Schiffahrtsamt Berlin. Auch wenn er sich über die Länge einer neu zu bauenden Schleusenkammer ausschweigt, so zeigt sich Pohl doch fest überzeugt, daß „in spätestens fünf Jahren“ das Havelwasser durch einen Neubau strömt. Der Schließung der 80 Jahre alten Anlage kann der Behördenleiter sogar einen positiven Aspekt abgewinnen: Den Neubau könnten die Wasserplaner nun von der gefährdeten Zitadelle wegrücken.

Deutlich ist bei Pohl das Bemühen herauszuhören, möglichst keine neue öffentlich geführte Auseinandersetzung um die Schleuse zu provozieren. Über die Neubauplanung will er Journalisten keine Auskunft geben, und Vertreter der Senatsverwaltung für Verkehr, die sich in der Presse gegen eine 110-Meter-Schleuse wenden, müssen sich von ihm öffentlich rüffeln lassen. Der Spandauer Bürgermeister Sigurd Hauff freilich nutzt jede Gelegenheit, für seinen Bezirk ein Mitspracherecht für die Zukunft der Schleuse einzuklagen.

Seegrundstück mit Strom, Telefon und WC gesucht

Ärger droht dem Wasser- und Schiffahrtsamt zunächst von den frustrierten Reedern. Sie lassen nun einen Rechtsanwalt prüfen, ob die Bundesbeamten sie früher hätten unterrichten müssen und ihnen deshalb Schadenersatz schuldig sind. Andere Nutzer der Schleuse, die in ihrer beruflichen Existenz gefährdet sind, haben bescheidenere Forderungen. Der Berufsfischer Otto Latendorf etwa, der dreimal in der Woche nachts von der Oberhavel zum Wannsee fuhr, sucht nun ein Seegrundstück mit Strom, Telefon und WC als Stützpunkt für seine Flotte an der Unterhavel. „Wenn uns dort ein Anrainer als Mieter aufnehmen würde“, so sagt die Frau des Fischers, „wäre uns schon gedient.“ Hans Monath