Kasseler Verkehrspolitik-betr.: "Idiotie und Sadismus", Interview mit FORSA-Chef Manfred Güllner, taz vom 22.3.93

betr.: „Idotie und Sadismus“, Interview mit FORSA-Chef Manfred Güllner, taz vom 22.3.93

[...] Kassel ist eine Stadt ohne nennenswerte Probleme für das Auto (über 14.000 Parkplätze in der Innenstadt, nur zirka 15 Minuten Fahrtzeit von der Stadtgrenze bis in die City), aber mit erheblichen Problemen durch das Auto (35.000 Menschen wohnen an stark belasteten Hauptverkehrsstraßen). Kassel hat seit 1990 einen bundesweit hinsichtlich Zielsetzung und Maßnahmen als vorbildlich angesehenen Generalverkehrsplan (integriertes Maßnahmenprogramm zur Förderung des „Umweltverbundes“ und zur Reduzierung des Autoverkehrs), an dessen Umsetzung auf verschiedenen Ebenen intensiv gearbeitet wird.

So wurden zum Beispiel in Kassel in den letzten Jahren 15 hochmoderne Niederflurstraßenbahnen angeschafft. Das Straßenbahnnetz im Stadtgebiet und ins Umland wird um zirka 30 Kilometer ausgebaut, erste Neubaustrecken sind bereits in Betrieb. Diese und weitere Maßnahmen (Tarifgestaltung, Haltestellenumbau u.a.) haben zu einer erheblichen Attraktivitätssteigerung im öffentlichen Nahverkehr geführt. Mit Erfolg: Die Fahrgastzahlen bei der Kasseler Verkehrs-Gesellschaft AG sind um sieben Prozent gestiegen. Und bei Pkw-Nutzung und Motorisierungsgrad sind Anzeichen für eine Trendwende weg vom Auto erkennbar.

[...] Die vielzitierten „roten Tonnen“ dienen nicht der „Verschandelung des Stadtbilds, sondern sind Teil einer Umgestaltung von 90 Prozent des Kasseler Straßennetzes zu Tempo-30-Zonen. Diese ist zunächst bewußt als Übergangslösung konzipiert worden, um in kurzer Zeit (innerhalb von zwei Jahren) mit wenig Geld (2,8 Millionen DM statt 30 Millionen DM bei kompletter baulicher Umgestaltung) viel Nutzen für die Kasseler Bevölkerung zu erreichen. Auch das mit Erfolg: die Durchschnittsgeschwindigkeit in den Tempo-30- Zonen sank auf 32 km/h, die Unfallzahlen gingen drastisch zurück. Nun sollen nach und nach je nach Bedarf bauliche Umgestaltungsmaßnahmen folgen.

Natürlich sind in Kassel Fehler gemacht worden, insbesondere bei der Vermittlung der Ziele und Maßnahmen an die betroffene Bevölkerung. Aber gerade von Herrn Güllner als Meinungsforscher wäre eine Antwort auf die spannende Frage nach den Ursachen für die Diskrepanz zwischen theoretischer Einsicht der Bevölkerung (pro Tempo 30 usw.) und realem Verhalten (Ablehnung der konkreten Umsetzung) zu erwarten gewesen. [...] Michael Bergholter, Leiter des

Amtes für Stadtplanung und

Stadterneuerung, Kassel