Auf den Spuren von Krupp & Co

Der morbide Charme des Kapitalismus: Industrielle Ruinen und Baudenkmäler liegen im touristischen Trend. Tips zu den Hochburgen von Industriearchitektur und -kultur  ■ Tilman Baumgärtel

„Dieselbe Wichtigkeit, welche der Bau von Knochenreliquien für die Erkenntnis der Organisation untergegangener Tiergeschlechter (hat), haben Reliquien von Arbeitsmitteln für die Beurteilung untergegangener ökonomischer Gesellschaftsformen“, schrieb Karl Marx im 1. Band des „Kapitals“. Der Kapitalismus ist zwar seither nicht untergegangen, aber die Monumente seiner Frühzeit ziehen seit einigen Jahren immer mehr Touristen an. Als neuen „Megatrend“ bezeichnete Albrecht Steinecke vom Europäischen Tourismusinstitut das wachsende Interesse an Industriearchitektur und -kultur. Während bei Hoesch im Ruhrgebiet gerade wieder die Schließung einiger Stahlwerke bevorsteht, widmet sich in Europa und Nordamerika den Relikten und Ruinen, die der Schritt von der industriellen zu postindustriellen Gesellschaft hinterlassen hat, eine junge und noch recht unbekannte Forschungsdisziplin: die Industriearchäologie.

„Industriearchäologie ist die systematische Erforschung aller dinglichen Quellen jeglicher industrieller Vergangenheit von der Prähistorie bis zur Gegenwart“, definiert Rainer Slotta, der Doyen der deutschen Industriearchäologie, den interdisziplinären Forschungszweig. „Dingliche Quellen“ – das können die verschiedensten Bauwerke sein: Hochöfen und Erzgruben genauso wie Eisenbahnbrücken und Bahnhöfe, Wassermühlen und Raddampfer wie Garnspinnereien oder Glashütten.

Diese Zweckbauten werden von der Industriearchäologie als „Informationsträger“ betrachtet, die Aufschlüsse über Wirtschaft, Geschichte, Ökologie und soziale Verhältnisse vermitteln. Gerade die Lebensumstände der arbeitenden Klassen, über die man aus schriftlichen Quellen wenig erfährt, können so rekonstruiert werden. Arbeitersiedlungen wie die Gartenstadt Hüttenau in Hattingen oder die Düsseldorfer Siedlung Freiheit sind Denkmäler der deutschen Arbeiterbewegung vor dem Zweiten Weltkrieg. Auch architektonische Innovationen wurden in der Industriearchitektur oft früher eingesetzt als im Wohnungsbau. Die um die Jahrhundertwende in den USA entstandenen Day Light Factories und die riesigen Getreidesilos im amerikanischen Middle West hatten einen profunden Einfluß auf europäische Avantgardearchitekten wie Gropius oder Le Corbusier.

Was Pompeji oder Forum Romanum für den klassischen Archäologen, ist für den Industriearchäologen die Gegend um Manchester in Großbritannien oder der amerikanische „Rust Belt“ zwischen Buffalo, NY und Detroit, MI. In Mitteleuropa liegen besonders viele industrielle Baudenkmäler in der Gegend um Lüttich in Belgien, dem „wohlumzäunten kleinen Paradies des Kapitalisten“, wie es Marx nannte. Hier gibt es wohl die höchste Industriemuseen- Dichte auf der ganzen Welt (z.B. Maison de la Metallurgie, Boulevard R. Poincarre 17, 4020 Lüttich, Di./Do./Sa. 14–17 Uhr)

In Deutschland ist natürlich das Ruhrgebiet das Dorado für den Liebhaber von industriellen Baudenkmälern. Dort steht zwischen Solingen und Remscheid die höchste Eisenbahnbrücke Deutschlands, die Müngstener Brücke, oder das im Aufbau befindliche Westfälische Industriemuseum, das im Augenblick in der Jugendstil-Zeche Zollern II in Dortmund einen Maschinenpark der Jahrhundertwende präsentiert (Grubenweg 5, Sa./So. 10–18 Uhr). Im Bochumer Bergbau-Museum (Di.–Fr. 8.30–17.30, Sa./So. 13 Uhr) kann man in der weltweit größten Ausstellung zur Bergbau- Geschichte in einen künstlich angelegten Stollen einfahren. Und das Hoesch-Museum in Dortmund wird vermutlich alle Stahlwerke von Hoesch überleben (Eberhardstraße 12, Mo.–Fr. 10–17 Uhr).

In Essen kann man in der Villa Hügel, dem Stammhaus der Familie Krupp, besichtigen, wie die Profiteure der Industriellen Revolution in Saus und Braus lebten. Einige Kilometer weiter erlaubt die ab 1906 im „Heimatstil“ erbaute Arbeitersiedlung Margarethenhöhe (Sommerburg, Metzendorfstraße) Einblick in die Existenz derjenigen Kruppianer, die nicht als Großindustrielle mit den deutschen Kaisern und später den Nazis kungelten, sondern von ihrer eigenen Knochenarbeit zehrten.

Mit dem Fall der Mauer haben sich für Westdeutsche die Tore zum wohl größten Industriemuseum der Welt geöffnet: In der ehemaligen DDR haben sich bis zur Wende Werke und Technologien erhalten, die im Westen lange den Kräften der freien Marktwirtschaft zum Opfer gefallen waren: in Eilenburg bei Leipzig wurde bis 1991 Zelluloid produziert, ein Kunststoff, der in Westeuropa seit den 60er Jahren als ausgestorben galt. Zum industriearchitektonischen Pflichtprogramm gehört der Leipziger Bahnhof – der größte in Europa – und die bizarre, 1909 erbaute Zigarettenfabrik Yenidze in Dresden, die einer türkischen Moschee nachempfunden ist.

Die orthodoxe Industriearchäologie beschäftigt sich heute vorwiegend mit Bauwerken, die zwischen 1840 und 1930 entstanden. Für den echten Industrie-Fanatiker sind jedoch gerade die Anlagen interessant, die noch nicht museal erschlossen sind. Die Narben, die der Niedergang der Schwerindustrie im Ruhrgebiet hinterließ, sind auch heute noch überall im Revier zu besichtigen, obwohl in einigen geschlossenen Industrieanlagen heute mittelständische Betriebe angesiedelt oder Clubs wie die Zeche Karl in Essen eingerichtet wurden. In diesen Anlagen, oft halb verfallen oder ausgebrannt, fühlt sich derBesucher in ein postindustrielles Atlantis versetzt.

Natürlich kann man auch Fabriken und Anlagen besichtigen, die noch in Betrieb sind. Für Nostalgiker, die etwa die Ruhrindustrie besuchen wollen, solange sie noch steht, bieten alle großen Stahlhütten Führungen an, die meist von pensionierten Kumpeln geleitet werden. Wer ohne Anmeldung kommt, muß Glück haben. Manchmal gelingt es, den Pförtner am Eingang durch freundliches Nicken von der Betriebszugehörigkeit des Besuchers zu überzeugen. Ist diese Hürde erst genommen, kann man meist herumspazieren, muß aber jederzeit damit rechnen, vom Werkschutz angehalten zu werden. Meist nehmen die Wachmänner nur die Personalien auf und fahren einen zum Eingang zurück – worüber man bei den oft riesigen Hüttengeländen manchmal sogar ganz dankbar ist.

Literatur: Volker Rüdel: „Reclams Führer zu den Denkmalen der Industrie und Technik in Deutschland 1 (Alte Länder)“, Reclam, 89 DM

Otfried Wagenbreth/Eberhard Wachtler: „Technische Denkmale in der Deutschen Demokratischen Republik“, Deutscher Verlag für Grundstoffindustrie, 42 DM