Stilleben mit Schaf und Tourist

Das Biosphärenreservat Rhön wird zu einer ökologischen Modellregion entwickelt  ■ Von Christel Burghoff

Die „schöne Rhönerin“ ist äußerst fotogen. „Hochbeinig, schlichtwollig, hornlos, ganz in Weiß mit einem aparten, schwarzen, schmalen Nofretetekopf, unbewollt bis hinter die Ohren“, so schwärmt man beim „Bund Naturschutz Bayern“ vom Rhönschaf, auch die „schöne Rhönerin“ oder der „Adonis unter den deutschen Schafrassen“ genannt. Beinahe schon ausgestorben, wird dieses Tier wieder neu gezüchtet und kehrt auf die Höhenzüge der hohen Rhön zurück. Die Rhön: ein deutsches Mittelgebirge, das sich über das Dreiländereck von Hessen, Bayern und Thüringen erstreckt, herb und rauh, mit baumlosen, offenen Höhenzügen. Es rühmt sich einiger Naturraritäten wie den steilen Basaltklippen und -kegeln oder den seit Jahren streng geschützten Hochmooren. Im großen Naturschutzgebiet „Lange Rhön“ balzt in den ersten Frühlingstagen noch das selten gewordene Birkwild. Trotz touristischer Infrastruktur und hohem Ausflugsverkehr ist sie noch ein bewirtschaftetes Hochland mit vielfältigem Artenreichtum und ansprechendem Naturreservoir.

Daß künftig wieder Rhönschafe über die blühenden Magerwiesen der Bergrücken ziehen und das gefällige Landschaftsbild zur Freude der Touristen noch um einen zusätzlichen Hauch Idylle bereichern werden, ist ein wesentlicher Punkt eines Programmes, das die Rhön nun zu einer ökologischen Modellregion entwickeln will. 135.600 Hektar Rhön wurden 1991 von der Unesco zum „Erbe der Menschheit“ erklärt und samt Mensch und Tier, Natur und Kultur, samt Dörfern und ihren bäuerlichen und handwerklichen Traditionen in den Schutzstatus „Biosphärenreservat“ überführt. Sie ist damit eines von derzeit weltweit 340 Biosphärenreservaten, in denen vorhandene Potentiale bewahrt und nach dem Arche-Noah-Prinzip global vernetzt werden sollen. Ein Gebiet, in dem auch alle weiteren regionalen Entwicklungen so gesteuert werden sollen, daß sie dem postulierten Schutzziel dienen.

Mittendrin, in Wüstensachsen, hat sich der Trägerverein „Natur- und Lebensraum Rhön“ niedergelassen. Sein Geschäftsführer Dieter Popp ist im Rahmen des MAB- Programms der Unesco (Mensch und Biosphäre) mit der Regionalentwicklung befaßt. Solange die geplante Öko-Entwicklung noch nicht regionalpolitisch durchgesetzt ist, leistet er in der Rhön Überzeugungsarbeit und wirbt für die Entscheidung der Unesco. Nach einem Jahr Tätigkeit ist er froh, daß der Widerstand der Bevölkerung nachgelassen hat, denn was mit der Rhön passiert, ist in der Bevölkerung umstritten. Gegen die „Entscheidung von oben“ regte sich breiter Unmut, ungefragt und unvermutet sahen sich die Rhöner in einen „Sozialzoo“ gesteckt. „Käseglocke“, „Indianerreservat“ ..., es wurde kräftig geschimpft. „Ein Schritt in die falsche Richtung“, argumentierte die Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft (ABL). Sie verfolgt die Strategie einer eigenständigen Regionalentwicklung und will die ökonomische Basis der naturschonenden bäuerlichen Bewirtschaftungsweise insgesamt gestärkt wissen. „Naturschutz muß flächendeckend erfolgen“, meint Josef Jacobi, ihr Vorsitzender. Statt für „Vorzeigeobjekte“ im Naturschutz engagiert sich die ABL für eine allgemeine Rückführung giftiger Chemieeinträge. „Wir wollen keine Musealisierung“, so Jacobi, denn das sei „Mißbrauch einer intakten Landschaft“. „Wenn schon Biosphärenreservat, warum dann nicht Frankfurt am Main – die haben's nötig.“

Der Vergleich mit dem amerikanischen Reservatsmodell kommt nicht von ungefähr, denn im Unterschied zu den gängigen Naturschutzregelungen macht das Biosphärenmodell einen Schritt weiter und bezieht selbst den Menschen mit ein. Innerhalb der Grenzen großer Regionen werden damit die Lebensbedingungen der betroffenen Bevölkerung definiert und mehr oder weniger festgeschrieben – eine in der Tat zweischneidige Angelegenheit.

Das Modell ist hierzulande noch neu, und kaum ein Mensch weiß, welche konkreten Konsequenzen damit verbunden sind. Biosphärenreservate sind in der Naturschutzgebung der Bundesrepublik Deutschland bislang nicht verankert. Die Unesco wählt die Gebiete aus nach Kriterien wie „Einzigartigkeit einer Gemeinschaft oder Fläche“ oder – wie im Fall der Rhön – unter dem Maßstab einer „harmonischen Landschaft, die durch traditionelle Landnutzung geschaffen wurde“. Über die gewünschte Bewirtschaftungsweise äußert sich das MAB-Programm nur undeutlich mit „partnerschaftlich“. Es propagiert ein Harmonie- Modell, in dem Mensch und Natur in einem beispielhaften Miteinander stehen sollen. Mit der Betonung auf historische Wirtschaftsweisen allerdings nährt das Programm durchaus Spekulationen über ein geplantes „Landschaftsmuseum“, über den Versuch also, die Region auf „Tradition“ zu präparieren.

Alles falsch, meint Dieter Popp, das Reservatsdenken beruhe auf einem Mißverständnis, das der Begriff Reservat ausgelöst hat. Die Unesco will „Reserven“ entwickeln. „Wenn es diese Entwicklung nicht gäbe, müßte man sie schaffen“, erklärt er, das Biosphärenreservat sei kein Hemmschuh oder eine „Bestrafung“, sondern eher Motor einer weiteren wirtschaftlichen Entwicklung der Region. Ein Modell im Eigeninteresse der Bevölkerung also? Auch die Rhön leidet – wie andere Mittelgebirgsregionen – unter dem „Bauernsterben“. Diese Entwicklung im Agrarbereich setzte schon in der Vorkriegszeit ein und wurde lediglich während der Nachkriegsjahre unterbrochen, als die Landwirtschaft verstärkt Nahrungsmittel produzieren mußte. Im Zeitraum von 1960 bis 1990 gaben in der Bundesrepublik 50 Prozent aller landwirtschaftlichen Betriebe unter dem wachsenden Druck, immer billigere Nahrungsmittel zu produzieren, auf. Die Rhöner könnten stolz sein, meint Popp, daß die Unesco ihre Region ausgewählt hat und jetzt aufzeigen will, wie man ökonomisch und ökologisch nachhaltig weiterwirtschaften kann.

Stolz allein macht nicht satt. Der Trägerverein kann jedoch auch mit ökonomischen Mitteln aufwarten: Aus dem Leader-Programm der EG für strukturschwache Gebiete stehen ihm derzeit 11 Millionen Mark zur Verfügung. Sie sollen in Projekte mit „innovativem Charakter“ und „Multiplikatoreffekt“ gesteckt werden. Im Trägerverein hat man die Partnerschaftsvorstellungen der Unesco in Formeln von „ganzheitlicher Entwicklung und vernetzten Konzepten“ übersetzt und fördert jetzt Projekte, mit denen viele „geschlossene Kreisläufe“ realisiert werden können. Beispielsweise die „Holzhackschnitzelanlage“: ein Heizsystem, das eine „umweltfreundliche Wärmeversorgung mit naturgerechter Waldbewirtschaftung und Naturschutz vernetzt in Einklang“ bringen kann. Oder beispielsweise das universell verwertbare Rhönschaf: Der robuste Pflanzenfresser, der nicht nur schön anzusehen ist, eignet sich auch bestens dazu, die kahlen Höhen der Rhön vor unkontrollierbarem Baumbewuchs zu schützen; schließlich kann er als Leckerbissen für Gourmets in die regionalen Kochtöpfe wandern und damit gleichzeitig das Qualitätsprofil von Rhönprodukten fördern. Sofern sich ein ökologisch wünschenswerter Mehrfacheffekt aufzeigen läßt, werden die unterschiedlichsten Ansätze gefördert, ob es sich nun um die Direktvermarktung „naturnaher Rhönprodukte“, um landschaftspflegerische Maßnahmen, um bäuerliches Kunsthandwerk, um vernetzte Verkehrskonzepte, um extensive Rinder- oder Schafhaltung oder um die Rettung Rhön-typischer Hausbauelemente handelt. Und natürlich werden speziell touristische Projekte gefördert wie die Umgestaltung von Übernachtungsbetrieben nach streng sanft- touristischen Kriterien oder ein Vermarktungskonzept, um wirkungsvoll für das Biosphärenreservat werben zu können.

So überzeugend sich die ökologische Selbstentwicklungsprogrammatik für die Rhön auch ausnimmt, so ist auf Tourismus zugeschnitten. Damit das Modell nicht am ökonomischen Dauertropf hängen bleibt, braucht es vor Ort den zahlenden Käufer, den Touristen, der Öko-Angebote schätzt und auch honorieren kann. Ohne Tourismus keine Regionalentwicklung, ist die entscheidende Formel.

Für den Agrarexperten Dieter Vögelin, der unlängst an der Gesamthochschule Kassel zwei studentische Projekte über das Biosphärenreservat Rhön leitete, liegt die Entwicklung dort im Trend. Ländliche Regionen versuchen jetzt generell, ihre Wirtschaft mit sanftem Tourismus anzukurbeln. „Wir werden bald riesige Landschaftspflegeprogramme haben“, mutmaßt er. Landwirte werden für Landschaftspflegedienste bezahlt. Der Unterschied zwischen der Rhön und anderen Regionen besteht in der neuartigen Förderpraxis. Vögelin geht davon aus, daß das Modell Biosphärenreservat andere regionalpolitische Strategien wie das Hessische Programm zur Förderung eigenständiger Regionalentwicklung ablösen und die öffentlichen Geldmittel auf sich konzentrieren wird. Wer hilft dann noch dem Landwirt, der seinen Hof nur einen Kilometer außerhalb der Reservatsgrenzen hat? Durch die ländliche Welt geht eine neue Grenze, eine „Weltgrenze“, wie sie Dieter Vögelin bezeichnet. Das Reservat kennt keine Zäune und keine Mauern, es ist nicht einmal gesetzlich verankert – seine Grenze ist ökonomischer Natur.

Mit dem Öko-Gütesiegel der Unesco und dem Geld aus dem EG-Topf läßt sich in der Tat einiges machen, das über viele bescheidene und rührige Versuche mit dem „Sanften Tourismus“ hinausgeht.

Die bäuerliche Kulturlandschaft kann zu einem ökotouristischen Großpaket verschnürt werden; traditionelle Elemente der ländlichen Kultur können neu entwickelt, neu gestylt und in einen Verbund gebracht werden, der den Interessen ökosensibler Touristen entgegenkommt. Günter Popp will dieser Klientel, die er als eine „Lebensstilgruppe“ mit einem „hohen Erwartungshorizont hinsichtlich der Umweltsensibilität im Ferienort selbst respektive dem Hotel- und Gastronomiegewerbe“ charakterisiert, den neuen Typus des „Landtourismus“ bieten.

Die Strategie, traditionelle Kultur- und Heimatelemente mit historischen Methoden des Landbaus und neuesten Öko-Erkenntnissen über Baubiologie, Gästeversorgung und Verkehrswesen „ganzheitlich“ zu verknüpfen, hat in der Tat wenig mit dem klassischen Reservatsgedanken zu tun, der die Rhöner beschäftigt. Es ist vielmehr eine avancierte touristische Strategie als Gegenpol zum aggressiven Großtourismus. Natur- und Landschaftsreserven werden in moderne touristische Refugien verwandelt, in Öko-Idyllen, in denen es inmitten dörflicher Strukturen und historischer Ensembles heimelig und harmonisch zugehen soll: im Biosphärenreservat soll die Mensch-Natur-Beziehung noch stimmen – eine heile Welt im grünen Winkel. Ob sich das Entwicklungskonzept für die Rhöner rechnet? Dieter Vögelin ist skeptisch. Trotz Biosphärenreservat werde das Bauernsterben weitergehen. Seine Studenten zitieren die Stimmen betroffener Landwirte, die sich durch Planungsbeschlüsse ihrer traditionellen Autonomie enteignet fühlen und ihre Arbeit sozial entwertet sehen. Gelder für landschaftspflegerische Maßnahmen treiben die Produzenten der ästhetischen Landschaft in neue Abhängigkeiten, statt ihre bäuerliche Eigenständigkeit zu fördern. Projekte wie „Urlaub auf dem Bauernhof“ schaffen vor allem Mehrfachbelastungen bei der Arbeit. „Die Bauern werden depressiv“, sagt Jacobi von der ABL kurz und bündig, „erst entzieht man ihnen ihre Grundlagen, und dann schickt man sie in Therapie – und läßt sie unter Aufsicht Kühe melken.“ Im Trägerverein Natur- und Lebensraum Rhön hingegen wird inzwischen ein marktwirtschaftlicher Erfolg verbucht: Der Preis für Fleisch und Rhönschaf hat beachtlich angezogen. Schon gibt es Nachschubprobleme an Lebendtieren. Es hat sich nämlich schnell herumgesprochen, daß das Rhönschaf hervorragend schmeckt.