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David gegen Goliath – oder: Kotau verweigert

Der britische Gouverneur von Hongkong, Chris Patten, will die Kronkolonie kurz vor der Rückgabe an China demokratisieren. Die chinesische Regierung lehnt das als „stinkenden Kolonialismus“ ab  ■ Aus Hongkong Werner Meißner

Die britisch-chinesischen Beziehungen waren stets von besonderer Art. Waren es doch die Engländer, die sich 1793 als erste unter den Europäern anläßlich der Audienz einer Gesandtschaft seiner Majestät Georgs III. beim Kaiser Qian Long weigerten, den traditionellen Kotau zu vollziehen. Dem Sieg Englands im Opiumkrieg folgte die Abtretung der Insel Hongkong im Vertrag von Nanking 1842. Später gab es noch mehrere militärische Auseinandersetzungen, die alle zum Nachteil Chinas ausgingen. 1898 wurden schließlich die New Territories, die an die chinesische Südprovinz Guangdong grenzen, für 99 Jahre an England verpachtet. Die endgültige Rückgabe der ganzen Kolonie an China ist für den 1.Juli 1997 vereinbart.

Um die Übergabe so reibungslos wie möglich zu vollziehen, hatten sich Peking und London 1984 zunächst auf eine „Gemeinsame Erklärung“ geeinigt und danach ein „Grundgesetz“ ausgearbeitet, das die politischen und ökonomischen Strukturen Hongkongs für einen Zeitraum von 50 Jahren nach dem Modus festschrieb: ein Staat – zwei Systeme. Doch am Ende der Kolonialzeit verweigert der Vertreter Londons in Hongkong erneut eine von Peking geforderte Geste der Unterwerfung.

Pattens „Reform-Paket“

Der neue Gouverneur von Hongkong, Chris Patten, bis April 1992 Vorsitzender der Konservativen Partei in England, hatte im Oktober letzten Jahres Reformvorschläge zur Demokratisierung des politischen Systems der Kronkolonie verkündet.

Nach dem „Grundgesetz“ von 1984 sollen im Jahr 1995 von den 60 Mitgliedern des Legislativen Rates 20 direkt gewählt, 10 von einem Wahlkomitee ernannt und 30 von „funktionalen Wahlkreisen“ wie Banker- und Anwaltsvereinigungen entsandt werden. Patten schlug nun vor, daß sich das Wahlkomitee aus Bezirksräten zusammensetzt, die schon 1994 direkt gewählt werden sollen. Weiterhin sollen die bereits bestehenden 21 „funktionalen Wahlkreise“ um neun auf 30 erhöht werden, in denen dann alle Berufsgruppen vertreten sind. Damit würden 2,7 Millionen Berufstätige zu Wahlberechtigten, die in ihrem jeweiligen „funktionalen Wahlkreis“ ein Mitglied des Legislativen Rates wählen können.

Die Reaktion Pekings

Die chinesische Führung sieht in den Plänen Pattens eine Ausweitung des von ihr als zu demokratisch gefürchteten direkten Wahlsystems. Sie muß damit rechnen, daß im Legislativen Rat 1995 eine möglicherweise Peking-kritische Mehrheit sitzt, die den neuen Herren ab 1997 das Regieren schwer machen könnte. Bereits bei der Wahl von 1991, als erstmals 18 Mitglieder direkt gewählt werden durften, waren nämlich Pekings Kandidaten fast alle durchgefallen. Kein Wunder, denn die meisten Einwohner der Kolonie sind einst vor den chinesischen Kommunisten geflohen. Klare Sieger waren die liberalen United Democrats of Hong Kong um Martin Lee. Sie dürften auch 1995 das Rennen machen.

Peking wirft nun dem Gouverneur vor, die Vereinbarungen von 1984 zu brechen. Ob dies zutrifft, ist umstritten; denn das Grundgesetz regelt weder das Zustandekommen des Wahlkomitees noch den Wahlmodus der „funktionalen Wahlkreise“. Mit dem daraus resultierenden Regelungsbedarf begründete Patten auch seine Vorschläge.

Kurz nach dem Parteitag der KP Chinas Mitte Oktober war Patten nach Peking geeilt, um seine Vorschläge zu erläutern. Zugleich wollte er die weitere Finanzierung des geplanten Großflughafens in Hongkong, Chek Lap Kok – zweiter Streitpunkt zwischen beiden Seiten – klären. Pattens Reise wurde zum Fiasko: nicht nur, daß sein Wagen (Marke Daimler) auf dem Weg zum Außenminister eine Reifenpanne hatte, Qian Qichen ließ Patten buchstäblich abblitzen. Premier Li Peng lehnte es von vornherein ab, ihn zu empfangen. Dafür ließ Lu Ping, Leiter des Büros für Hongkong- und Macao- Angelegenheiten, den Gouverneur mit der Gewißheit nach Hongkong zurückfliegen, daß bislang alle Gouverneure Hongkong als „Freunde Chinas“ verlassen hätten. Er sei sicher, auch Patten werde 1997 die Kolonie als „alter Freund Chinas“ verlassen. Die Desavouierung gipfelte darin, daß die Führung es erst nach der Rückkehr Pattens aus Peking für nötig hielt, dem Gouverneur auf dem Wege einer Pressekonferenz mitzuteilen, was sie von seinen Ideen hielt: Sie forderte ihn ultimativ auf, seine Reformpläne fallen zu lassen und lehnte eine Beteiligung an der Finanzierung des Großflughafens ab.

Entgegen chinesischen Erwartungen zeigte sich der Vollblutpolitiker Patten – anders als sein Vorgänger Wilson, von Hause aus Sinologe und stets auf Appeasement gegenüber Peking bedacht – uneinsichtig. Darauf erreichte am 30.November letzten Jahres der Konflikt seinen ersten Höhepunkt: Alle Verträge, so Peking, die die Hongkonger Regierung ohne Zustimmung Pekings unterzeichnet, sind nach dem 30.Juni 1997 ungültig. Aus ihnen resultierende finanzielle Verpflichtungen werden von Peking nicht übernommen. Damit sind der Hongkonger Regierung bei allen größeren Projekten, die über 1997 hinausreichen, die Hände gebunden.

Die kommunistische Presse startete nach bekannter Manier eine Kampagne gegen Patten und seine Vorschläge. Sie schimpfte ihn einen Lügner und abgewirtschafteten Vorsitzenden der Konservativen Partei, der bei den letzten britischen Unterhauswahlen ja auch seinen Wahlkreis verloren habe – als hätte je ein Kader der KP Chinas einen Wahlkreis gewonnen.

Pekings Verbindungsleute in Hongkong setzten Mitglieder des Legislativen Rates und Vertreter der Wirtschaft unter Druck. Angeblich wurde ihnen mit Konsequenzen für die Zeit nach 1997 gedroht. In Hongkong ist bekannt, daß die Behörden in Peking „schwarze Listen“ führen, in die alle aufgenommen werden, die nicht als „Freunde Chinas“ gelten.

Trojanisches Pferd

Hongkong ist in den Augen Pekings das trojanische Pferd des politischen Liberalismus, Zufluchts- und Medienort für chinesische Dissidenten. Diese rufen von hier auf Grund der noch existierenden Meinungsfreiheit zum Sturz des politischen Systems der VR China auf und halten die Erinnerung an das Tiananmen-Massaker vom 4.Juni 1989 wach. Fernsehen und Rundfunk werden auch im Regionaldialekt Kantonesisch ausgestrahlt. Sie haben ähnliche Auswirkungen auf die Bevölkerung Südchinas wie die westdeutschen Medien früher auf die Bevölkerung in der DDR. Was Peking daher heute in Hongkong durchgehen läßt, kann sich – allein schon auf Grund der schnell wachsenden ökonomischen Verflechtung Hongkongs mit Südchina – morgen in Guangdong und übermorgen in anderen Provinzen wiederholen.

Pekings Behandlung des Konflikts mit Patten entspricht daher der zur Zeit verfolgten innenpolitischen Strategie: Orthodoxe und Wirtschaftsreformer zielen gemeinsam darauf, alle Veränderungen in Richtung auf Demokratisierung zu unterdrücken. Uneinig sind sie sich allenfalls darin, bis zu welchem Grade die Marktwirtschaft genutzt werden soll, um China gegenüber dem Westen zu stärken, ohne dabei das eigene politische System zu gefährden.

Langfristig steht die Pekinger Führung jedoch mit dem Rücken zur Wand, denn der politische Druck nimmt zu, die Regionalisierung Chinas wird stärker, und die Spannungen in Tibet und Xinjiang verschärfen sich. Peking versucht daher, Hongkong als Ort der politischen „Ansteckung“ auszuschalten, selbst auf die Gefahr hin, daß dabei wirtschaftlicher Schaden für alle Beteiligten entsteht. Offenbar wird dies von Peking inzwischen sogar einkalkuliert. Deng Xiaoping soll zudem persönlich angeordnet haben, gegenüber Patten und London absolut kompromißlos zu bleiben.

Verschärfung der Krise

Seit zwei Wochen hat sich die Krise dramatisch verschärft. Vertrauliche Gespräche zwischen London und Peking waren unter anderem daran gescheitert, daß Peking im Gegensatz zu früher die Vertreter Hongkongs nicht als Mitglieder der britischen Verhandlungsdelegation akzeptiert. Patten ließ daraufhin seine Reformpläne als Regierungsvorlange drucken und leitete damit den verfassungsmäßigen Prozeß der Behandlung der Pläne im Legislativen Rat ein. China sieht das als offenen Affront. In seiner Eröffnungsrede zum vor drei Tagen beendeten Nationalen Volkskongreß kritisierte Premier Li Peng in Abweichung vom ursprünglichen Text den Gouverneur erstmals namentlich. Seitdem läuft die Kampagne gegen Patten auf vollen Touren: hochrangige chinesische Politiker, mit kräftiger Unterstützung der kommunistischen Presse, bezeichnen den Gouverneur unter anderem als „Kriminellen“. Im Kommentar der Shanghaier Befreiungszeitung vom 23.März wird er als Nachfahre des „stinkenden Kolonialismus“ bezeichnet und mit einer Prostituierten verglichen. Erstmals wird offiziell seine Abberufung gefordert.

Das britische Kabinett und das Unterhaus haben sich jedoch uneingeschränkt hinter Patten gestellt. Auch in Hongkong beläuft sich die Unterstützung der Bevölkerung für den Gouveneur laut Umfragen immer noch auf zirka 45 Prozent, ein Teil schwankt, doch gibt es bislang keine Mehrheit gegen Patten.

Eine Abberufung Pattens käme einer Unterwerfungsgeste gleich. Sie hätte schwerwiegende psychologische Auswirkungen auf Hongkong und seine Geschäftswelt. Die Administration würde dann vor jeder Entscheidung nur noch nach Peking starren.

Man muß bezweifeln, ob Peking überhaupt an einer Beilegung des Konflikts interessiert ist. So hat Peking definitiv die Aufstellung eines „Schattenkabinetts“ – hier „eigener Herd“ genannt – angekündigt. Dieses soll sich zur Hälfte aus „patriotischen“ Persönlichkeiten Hongkongs zusammensetzen. Seine Aufgabe soll darin bestehen, die Machtübernahme auf allen Ebenen vorzubereiten. Dazu gehört auch die Überprüfung aller in der Kolonie gültigen Gesetze. Einer der Mitbeteiligten an der Ausarbeitung des Grundgesetzes, Professor Xu Chongde, äußerte hierzu unmißverständlich, es sei die Aufgabe dieser Arbeitsgruppe, „...Empfehlungen an den Ständigen Ausschuß des Nationalen Volkskongresses vorzubereiten, welche lokalen Gesetze nach 1997 wieder abgeschafft werden müssen, so etwa die Bill of Rights.“ Damit wird deutlich, daß es für Hongkong nach 1997 keine wirkliche Autonomie geben wird – so wenig, wie es sie für Tibet gibt.

Von dem Konflikt um Hongkong sind nicht nur die britisch-chinesischen Beziehungen betroffen. Peking sieht sich seit Ende des letzten Jahres in der Hongkong-Frage einer wachsenden Front der wichtigsten pazifischen Staaten gegenüber.

Der Westen unterstützt Patten

Neben Australien haben Kanada, die USA und mit Einschränkungen auch Japan ihre Unterstützung für Patten zum Ausdruck gebracht. Nach dem weltweiten Niedergang des Kommunismus nimmt der Westen zudem politisch weniger Rücksicht auf die VR China: Peking hat den Verkauf der amerikanischen F-16 und der französischen Mirage an Taiwan ohnmächtig hinnehmen müssen; seitdem sind vor allem die Beziehungen der VR China zu Frankreich schwer belastet. Und im Gegensatz zu George Bush ist US-Präsident Clinton kein „alter Freund Chinas“. Zugleich muß Peking angesichts der Besuche von Ministern westlicher Staaten in Taipei feststellen, daß Taiwans Gewicht in der internationalen Politik ständig wächst.

Es ist daher nicht auszuschließen, daß sich mit der Hongkong- Krise zugleich eine Wende in der chinesischen Außenpolitik abzeichnet. In das Bild, verstärkt die nationale Karte zu spielen, paßt auch Pekings wiederholter Anspruch auf die Inselgruppen im südchinesischen Meer, auf die auch andere Staaten der Region wie Vietnam und Indonesien Anspruch erheben, sowie die massive Aufrüstung der Streitkräfte.

Neuer Kurs?

Der Hongkong-Konflikt könnte daher ein Signal dafür sein, daß Peking in der Innen- und Außenpolitik einen härteren Kurs einschlägt:

–Im Kampf gegen die politische Liberalisierung: Unterdrückung jedes Ansatzes zur Demokratisierung nicht nur in der VR China selbst, sondern auch prophylaktisch in einer Region, die erst ab 1997 zum Staatsgebiet gehört.

–Im Kampf gegen die Regionalisierung: Zurückdrängung des Einflusses Hongkongs und des Westens auf Südchina und Verstärkung der Kontrolle über die politischen Entwicklungen vor allem in Guangdong.

–Demonstration außenpolitischer Handlungsfähigkeit und Stärke, was zugleich auf die Innenpolitik stabilisierend zurückwirken soll.

Diese Strategie scheint nach innen bereits Früchte zu tragen. So ist der Gouverneur von Guangdong, Zhu Senlin, am 21.März erstmals öffentlich auf die Pekinger Linie eingeschwenkt. Die Tagung des Nationalen Volkskongresses legte eine weitere Entwicklung offen: Die offizielle Nachrichtenagentur meldete überraschend am 19.März, daß Delegierte des Volkskongresses offen mehr Demokratie und direkte Wahl unter mehreren Kandidaten für die Führungsämter fordern. Bereits in mehreren Provinzen, darunter angeblich in Guizhou und Zhejiang, soll auf den Regionalkongressen der von der Partei nominierte Kandidat für das Amt des Gouverneurs bei der Abstimmung durchgefallen sein, ein in der Geschichte der VR China einmaliger Vorgang. Er signalisiert: Der von der Parteiführung so gefürchtete „demokratische Bazillus“ grassiert nicht nur in Hongkong, sondern schon in China selbst.

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