Kein Traum. Nirgends.

■ Morgen vor 25 Jahren wurde Martin Luther King in Memphis/Tennessee erschossen. Ein Vierteljahrhundert nach seinem tod steht es denkbar schlecht um den Traum einer integrierten Gesellschaft ohne Rassenhaß

Kein Traum. Nirgends.

In Los Angeles redet man dieser Tage nicht viel von Martin Luther King, dafür um so mehr von jenem Moment im April letzten Jahres: Da stand ein anderer King, Vorname Rodney, vor den Fernsehkameras und versuchte mit unbeholfenen Worten, seine schwarzen Mitbürger zu beruhigen, die die ersten Häuser in Brand gesteckt hatten und Jagd auf Weiße und Koreaner machten. Auslöser für den Haßausbruch war der Freispruch eines Geschworenengerichts für vier weiße Polizisten, die Rodney King nach einer Verkehrskontrolle in einer Prügelorgie zusammengeschlagen hatten.

Jetzt, fast ein Jahr nach dem Aufstand von Los Angeles und 25 Jahre nach der Ermordung Martin Luther Kings, wartet die Stadt auf das Urteil im zweiten Verfahren gegen die vier Polizisten. Voraussichtlich wird die „National Guard“ dieses Mal schon vor der Urteilsverkündung in South Central Los Angeles stationiert.

In Kansas redet man dieser Tage nicht viel über Martin Luther King, dafür um so mehr über Rassentrennung. Hier nahm 1951, gestützt von einer Koalition aus schwarzen und jüdischen Bürgerrechtsorganisationen, jener Prozeß gegen die Segregation in den Schulen der Stadt Topeka seinen Anfang. Drei Jahre später beendete der Oberste Gerichtshof das Verfahren, indem er die Rassentrennung für verfassungswidrig erklärte. Es dauerte über zehn weitere Jahre, bis Bürgerrechtsaktivisten in Tausenden von Demonstrationen, Sit-ins und Blockaden vor allem in den Südstaaten Gouverneure, Sheriffs, Lehrer und den allseits präsenten Ku-Klux-Klan zwangen, diese höchstrichterliche Entscheidung anzuerkennen. Manche haben dieses Engagement mit dem Leben bezahlt, viele mit Prügel und Gefängnis.

Los Angeles und Kansas City sind zwei Versionen des gleichen Fazits. „Das Land ist heute stärker segregiert als zu Lebzeiten Kings und Kennedys“, schreibt Anthony Lewis, Kolumnist der New York Times. „Ich bin eigentlich aufgewachsen in der Hoffnung, daß wir eine integrierte Gesellschaft haben würden, nicht nur ein Ende des offiziellen Rassismus.“

Rund zwei Jahrzehnte nach dem Ende der Bürgerrechtsbewegung hat sich der Traum von der integrierten Gesellschaft als Seifenblase erwiesen, während der offizielle Rassismus für viele Afroamerikaner noch lange nicht zu Ende ist. Das zeigt der Fall Rodney King oder die jüngste Studie der „National Association For The Advancement Of Coloured People“ (NAACP) über Polizeibrutalität gegen Schwarze. Das zeigen vor allem zwölf Jahre Reagan-Bush-Administration, deren Folgen sich nicht einfach durch einen Machtwechsel in Washington beseitigen lassen: Aufgrund von Mittelkürzungen im Bildungsbereich ist die Zahl schwarzer StudentInnen und DoktorandInnen in den letzten zehn Jahren zurückgegangen. Aufgrund radikaler Streichung von Bundesmitteln für die Großstädte leben nunmehr 36 Prozent aller Afroamerikaner unterhalb der Armutsgrenze, wovon wiederum drei Viertel alleinerziehende Mütter sind. Mord ist inzwischen die häufigste Todesursache unter schwarzen männlichen Teenagern.

Dieser Zustand totaler Ausweglosigkeit erklärt nicht zuletzt, warum sich das Credo des schwarzen Separatismus eines Malcolm X auf T-Shirts, Hiphop-CDs, Baseball-Mützen und im Film vermarkten läßt, nicht aber die Prinzipien des zivilen Ungehorsams und der Integration eines Martin Luther King.

Die brutalen Lebensumstände in den städtischen Ghettos sind sowohl Realität wie auch diskriminierendes Klischee, gegen das sich vor allem Mitglieder der schwarzen Mittelschicht zu Recht wehren. Doch auch sie müssen nicht erst Statistiken lesen, um 29 Jahre nach Verabschiedung des „Civil Rights Act“ festzustellen, daß Diskriminierung omnipräsent ist.

Allen Gleichstellungsplänen zum Trotz stellen Afroamerikaner, die insgesamt 10 Prozent der US-Arbeitskräfte ausmachen, 21 Prozent aller Hausmeister, aber nur 2,6 Prozent aller Rechtsanwälte; 29 Prozent aller Hausangestellten, aber nur 1,5 Prozent aller Zahnärzte. Wer eine schwarze Hautfarbe hat, wird bei der Vergabe von Krediten ebenso diskriminiert wie beim Aufnehmen einer Versicherung oder einer Hypothek. Oder beim Kauf eines Autos, wo Afroamerikanern für das gleiche Modell in der Regel ein höherer Preis abverlangt wird als weißen Amerikanern.

„Affirmative Action“ wird inzwischen unter schwarzen Intellektuellen auch ideologisch in Frage gestellt — zum Beispiel von politisch so unterschiedlichen Repräsentanten wie Clarence Thomas, neokonservativer Jurist und einziger afroamerikanischer Richter am Obersten Gerichtshof, und Derrick Bell, ebenfalls Jurist, Ex- Harvard-Professor und radikaler Kritiker rassistischer Verhältnisse in den USA. Beide haben von Gleichstellungsplänen in ihrer Berufslaufbahn profitiert, beide kritisieren sie heute. Thomas, weil er sie für entmündigend, leistungshemmend und stigmatisierend hält; Bell, weil seine Berufskarriere eine Chancengleichheit vortäusche, die in Wahrheit nicht existiere. So sein Resümee unlängst auf einer Podiumsdiskussion.

Während Schwarze in den USA nach einer neuen Strategie, einer neuen politischen Klammer suchen, beerben andere die Bewegung. Als neue Bürgerrechtler im klassischen Sinn der Chancengleichheit verstehen sich heute die Schwulen-und Lesbenorganisationen, die gegen Homophobie und Diskriminierung ankämpfen und ansonsten zu erstreiten versuchen, was die Definition des amerikanischen Mainstream ausmacht: Das Recht auf Ehe, Kinder und den Zugang zum Militär. Durch den Kampf gegen Aids ist die Schwulen-und Lesbenbewegung in manchen Aktionsformen radikaler und provokanter, als es die schwarze Bürgerrechtsbewegung je war. Gleichzeitig hat sie sich dank einer enormen Professionalisierung zu einer politischen Lobby mit Einfluß entwickelt – einer Lobby allerdings, die nach außen hauptsächlich durch weiße Männer repräsentiert wird.

Die zweite Bewegung, die sich die Hymne „We shall overcome“ und – je nach Bedarf – die Taktik der Sitzblockaden angeeignet hat, kommt aus der politisch entgegengesetzten Richtung: die Abtreibungsgegner. Sie dehnen ihr politisches Programm zunehmend auch auf Aktionen gegen Schwule und Lesben aus – Teil eines christlich- fundamentalistischen Kreuzzuges gegen alles, was ihrer Meinung nach die grundlegenden Werte der amerikanischen Gesellschaft bedroht.

Sprecher der Bewegung, wie der Direktor der Organisation „Operation Rescue“, Randall Terry, gerieren sich öffentlich laut und gerne als die wahren Nachfolger Martin Luther Kings. Auch wenn der wahrlich kein Avantgardist in der Frage der Frauenrechte war, gegen diesen Vergleich würde er sich wohl wehren, wäre er noch am Leben.