: Metal meets Bubblegum meets Schmalzbrot
■ Der Nackenspoiler lebt! Bon Jovi in der Berliner Deutschlandhalle
Es gibt sehr nette Menschen hier. Da kommt schon einer schnurstracks auf mich zu. Sehr breit und fast so hoch, braune Lederjacke, kunstvoll gebleichter Nackenspoiler, offenes und erwartungsvolles Gesicht. Er schiebt meinen Begleiter zur Seite: „Mach mal Platz da!“
Schon redet er los, und es entspinnt sich in etwa folgender Dialog: „Warum guckst du mich immer so an, du schwule Sau?“ – „?“ – „Halt's Maul. Wir können auch rausgehen. Du starrst mich nicht mehr an!“ – „Ich hab' dich doch gar nicht angeguckt.“ – „Ich sag' dir, du sollst mich nicht noch mal so anstarren, du schwule Sau!“ – „Aber ich hab' dich doch gar nicht angeguckt. Ich seh' dich zum ersten Mal.“ – „Ich tret' dir in die Eier, du schwule Sau, halt bloß dein Maul!“ Dann dreht sich unser frisch gewonnener Freund zum Glück auf dem Absatz um. Anscheinend hat ihn die Konversation mit uns nicht gefesselt.
Doch da geht schon das Licht aus, und noch bevor die letzte Saalbeleuchtung verloschen ist, lodern bereits Horden von einsamen Feuerzeugen auf den Rängen und begrüßen ihn. Als Jon schließlich kommt, geht das unter in einem gewaltigen Matsch aus Gitarren und Schlagzeug, dazu noch Scheinwerfer und Baß und Gekreische. Er ist schlicht und einfach da, und er singt. Er bewegt zumindest die Lippen, wenn man der verwaschenen Abbildung auf der überdimensionalen Videowand über der Bühne trauen kann.
Wie zur Sicherung der eigenen Identität, des eigenen Daseins, rennt er, Jon Bon Jovi, immer wieder vor auf eine der beiden Rampen, die weit in den Zuschauerraum der Deutschlandhalle hineinragen, grinst ins Publikum, streicht sich jungenhaft durch die Haare, reißt die Arme auseinander und den Kopf nach hinten, wie um zu sagen: „Ja, ich bin es. Ich selbst. Ich, Jon.“ Wir hätten es auch so geglaubt.
Nur einer kann so sein. Jon Bon Jovi ist der Michael J. Fox des Heavy Metal. Voll akzeptiert und in gewöhnlich gut informierten Kreisen als schwabblig-süße Teeniedroge geschätzt, immer mit dem Drang, doch mehr sein zu wollen. Versuche im ernsten Rollenfach gehen aber gerechterweise regelmäßig daneben, also zurück in die Zukunft zu Schuster und den Leisten respektive Schneider und den Lederhosen, weg mit den Solo-Plänen und her mit der Band Bon Jovi und noch eine Platte mit metal meets bubblegum meets feuchte Träume meets Schmalzbrot machen.
Nach zehn Minuten ist er immer noch da – das ist man nicht gewohnt vom Fernsehen. Spätestens jetzt fällt auf, daß diese kurzen Haare, die er neuerdings trägt, viel besser zu dem Kinder-Metal passen, den er schon immer spielte. Und es fällt auf, daß das irgendwie gebatikte Kapuzen-Shirt nun überhaupt nicht paßt. Oder eben genauso stilsicher ist wie die altbekannte Formel, daß nach drei schnellen Stücken immer eine Ballade kommt.
Doch längst sind wir eingelullt durch diesen vertrauten Rhythmus, diese vertraute Abfolge, diese vertrauten Rituale, durch diesen mächtigen Brei, der sich Musik nennt und über uns hinwegschwappt, durch die vielen hübschen Lichter, die halbwegs synchron zur Musik schwanken und wackeln und wieder aufleuchten.
Vielleicht ist es gar eine Art Gottesdienst, denn auf Kommando heben wir alle unsere Arme und klatschen im Rhythmus und glauben, daß wir eine verdammt amazing audience sind. Um das fortan zu beweisen, und damit uns Jon in bester Erinnerung behält, klatschen wir noch etwas lauter und noch etwas exakter im Rhythmus. Man ist seinem eigenen Erlebnis ja schließlich etwas schuldig.
Auf den Tresen der nicht genutzten Garderoben sitzen einige, die viel Geld gezahlt haben, um sich heute so richtig zu amüsieren und denen das zu gut gelungen ist. Manchmal fällt einer von ihnen runter, einfach so, als hätte er nur seine Kippe runtergeworfen. Doch die meisten stehen wieder auf, setzen sich wieder an dieselbe Stelle und warten auf das nächste Mal.
Wenn der letzte Ton gespielt, die letzte Messe gelesen, die letzte Strähne aus dem Gesicht gestrichen und das letzte Bier getrunken ist, gehen wir zum Ausgang, wo schon etliche Väter auf uns warten. Sie tragen graumeliertes Haar, Jogginghosen und mißmutige Mienen, haben ihre Hände tief in den Taschen ihrer Anoraks vergraben und befinden sich auf einer Mission. Sie beschützen ihre minderjährigen Töchter und ihre noch minderjährigeren Söhne vor den Gefahren des Rock'n'Roll. Doch heute, vielleicht nur dieses eine Mal, aber heute ganz bestimmt, waren sie definitiv überflüssig. Thomas Winkler
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen