„Ich bin ein Einzelgänger“

Der arbeits- und obdachlose Guido fährt seit einem Jahr täglich mit dem Bus quer durch die Stadt, um die Zeit totzuschlagen/ Der größte Wunsch des 23jährigen ist eine Lehrstelle  ■ Von Barbara Bollwahn

Berlin. Ohne Arbeit, ohne Wohnung und mit einer abgebrochenen Lehre ist Guido vor mehr als zwei Jahren von Kyritz bei Brandenburg nach Berlin gekommen. Er hielt die Streitereien mit dem alkoholkranken Vater und den Brüdern nicht mehr aus. Die Mutter war gestorben, als er zwölf Jahre alt war. Da er schon von kleinauf selber gekocht hat, sorgte er nach dem Tod der Mutter als jüngstes Kind für die Familie. Gedankt hat es ihm keiner. Im Gegenteil. Er war der „Sündenbock für alles“. Ohne daß jemand versuchte hätte, ihn zurückzuhalten, verließ er das kleine Dorf und ging nach Berlin.

Seitdem versuchte der 23jährige, sich über Wasser zu halten. Daß er Anspruch auf Sozialhilfe und Unterbringung in einer Pension hat, war ihm nicht bekannt. Immer wieder fanden sich Bekannte, die ihm den einen oder anderen Tip bei der Jobsuche gaben. So verkaufte er tageweise Zeitungen an S-Bahn-Stationen im Umland und ging für einige Monate nach Westdeutschland, um in einer Drückerkolonne von Behinderten hergestellte Wäscheklammern, Scheuerschwämme und Staubtücher an den Mann zu bringen.

Sein erstes Jahr in Berlin hat Guido „Platte“ gemacht. Für einen, dessen Kindheit und Jugend vom engmaschigen DDR-Sozialnetz geprägt wurden – mit seinen Eltern und vier Brüdern lebte er als kinderreiche Familie in einer Zehnzimmerwohnung, eine Lehrstelle wurde ihm automatisch zugeteilt – beeindruckte ihn dieses soziale Gefälle wenig. Im Gegenteil. Die ersten Monate fand er sogar „spannend und interessant“. Obwohl es ihm mit der Zeit dann doch „etwas mulmig“ wurde, ist ihm die Beschreibung dieses Jahres nur einen Satz wert: „Ich hab' mal da und mal da übernachtet.“ Mehr gibt es für ihn, der die ersten Schuljahre auf einer Sprachheilschule verbracht hat und immer noch stark nuschelt, darüber nicht zu sagen.

Vor gut einem Jahr erzählte ihm dann „irgendein Bekannter“ vom „Warmen Otto“, einer Wärmestube in der Waldenserstraße in Moabit. Seitdem bezieht er Sozialhilfe und geht jede Nacht in die Kreuzberger Pension „Sonnenschein“. Die Wärmestube ist zu einem festen Anlaufpunkt in seinem Tagesablauf geworden. Fast jeden Tag ist er dort zum Mittagessen. Dort hat er Freunde, mit denen er reden und Karten spielen kann, und gelegentlich hilft er auch bei den Essensvorbereitungen. „Die kennen mich da“, sagt er stolz, und als müßte er das beweisen, führt er an, daß er bei Schließung der Wärmestube wegen Überfüllung den „Diplomateneingang“ über'n Hof benutzt. Eine winzige Errungenschaft in einem nicht eben abwechslungsreichen Leben.

Seine Hoffnung auf eine Lehrstelle setzt er in die Sozialarbeiter. Obwohl er selbst nicht weiß, wie er es anstellen sollte, einen Ausbildungsplatz zu finden und sich damit seinen größten Wunsch zu erfüllen, hat er sich eine Frist gesetzt. „Bis zu meinem fünfundzwanzigsten Geburtstag nächstes Jahr im März will ich einen Ausbildungsplatz gefunden haben.“ Auch wenn er sich seiner Schwierigkeiten bewußt ist, weiß er ganz genau, daß „es allmählich Zeit wird“.

Seit einem Jahr schon verbringt er seine Zeit zwischen dem Aufstehen, dem Mittagessen im „Warmen Otto“ und der Rückkehr ins Haus „Sonnenschein“ im Bus. Unbehelligt von den Blicken der Fahrgäste – ihm ist nicht anzusehen, daß er ohne Arbeit und Wohnung ist – fährt er stundenlang kreuz und quer durch die Stadt. Lieblingsstrecken hat er nicht. Aber den 119er und 129er kennt er „in- und auswendig“. Die beiden Linien bringen ihn alle drei Monate von der Pension zum Arbeitsamt. Die Stunden im Bus sind ein tagtäglicher Kampf mit der Zeit, denn Guido muß „die Zeit totschlagen“. Auch die endlosen Irrfahrten sind ihm nicht mehr als einen Satz wert: „Manchmal vergeht der Tag schnell, manchmal langsam.“ Warum er nur im Westteil der Stadt unterwegs ist? „Weil da die Umgebung sauberer ist.“ Auch wenn er weiß, daß er zu DDR-Zeiten nicht gezwungen wäre, mit dem Bus rumzufahren, und eine Arbeit hätte, vermißt Guido seine Heimat nicht. „Dort konnte man seine Meinung nicht sagen und mußte machen, was der Staat sagte.“

Busfahren scheint das einzige zu sein, was seine Ausdauer nicht allzusehr auf die Probe stellt. Er hat zwar ein Lieblingsbuch aus dem Basteiverlag – „Geisterjäger“ von John Sinclair – doch nach „ein bis zwei Seiten“ verliert er das Interesse daran. „Bloß lesen ist doch langweilig.“ Ins Kino geht er nur selten. Und dann nur, um „spannende Kampffilme“ zu sehen. Für Musik interessiert er sich schon mehr. Ab und an hat er den Walkman auf seinen langen Fahrten dabei. Heavy Metal hört er gern, dazu steht er. Völlig unsicher dagegen gibt er zu, die Lieder von „Störkraft“ und den „Bösen Onkelz“ zu hören. Sein unsteter Blick sucht Schutz unter dem Schild der tarnfarbenen Mütze. Immer wieder betont er seine Distanz zu den ausländerfeindlichen Texten und daß ihm nur die Musik, „die ähnlich wie Heavy Metal“ ist, gefällt. Daß er nichts gegen Ausländer habe, begründet er mit wenigen Worten: „Ich fahre doch auch nach Polen.“ Auf dem Markt in Slubice gibt es nicht nur Zigaretten besonders billig. Auch die Kassetten von den „Bösen Onkelz“ und „Störkraft“ sind günstig zu haben.

Guido zieht es vor, auf seinen Fahrten allein unterwegs zu sein – „dann habe ich wenigstens meine Ruhe“. Keiner stellt ihm Fragen, nichts muß erklärt werden. „Ich bin eben ein Einzelgänger.“ Er muß auf niemanden Rücksicht nehmen, keiner drängt ihn zur Eile, wenn er aussteigen will, um sich ein Autoverkaufshaus aus der Nähe zu betrachten. Obwohl er „auf Amischlitten abfährt“, würde er sich aus finanziellen Gründen dann doch vielleicht „nur einen Opel“ kaufen. Aber ohne Führerschein sind das ohnehin nur Traumgespinste. Guido beklagt sich nicht. Willenlos scheint er sein Schicksal akzeptiert zu haben. Die Zeit bis zu einer Lehre, die die Sozialarbeiter für ihn finden sollen, wird er wohl weiterhin mit Busfahrten verbringen. Alternativen sieht er nicht. Besonders trostlos scheint er diese Aussicht aber nicht zu finden: „Der Busfahrer muß immer ein und dieselbe Strecke fahren. Ich dagegen kann jederzeit aussteigen.“