Leben auf dem großen Strom der Sinne

Eine neue Welle des Sensualismus? – Bonnard, Picasso und Sam Francis in drei Ausstellungen im Rheinland  ■ Von Thomas Fechner-Smarsly

Im Alter befällt so manchen Maler, anstelle der gewöhnlichen Senilität, eine sanfte Serenität. Jene Heiterkeit also, welche den Konturen ihre Schärfe nimmt, die Gegensätze miteinander versöhnt und selbst einen altersbedingten Starrsinn noch als nette Marotte erscheinen läßt. Möglicherweise ein Resultat fortschreitender Kurzsichtigkeit – oder aber, wer wüßte es genau zu sagen, das Ergebnis einer lebenslangen Auslieferung an die Augen.

Der Maler und das Glück

Zweifellos gehörte Pierre Bonnard zu jenen heiteren Alten. Soviel läßt sich zumindest angesichts seiner Bilder vermuten, die derzeit noch in der Düsseldorfer Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen zu sehen sind. Und die Ausstellung trägt den treffenden Titel: „Das Glück zu malen“. Worin besteht dieses Glück? Seine Sujets sind ganz und gar privat, häufig intim: Landschaften und Gartenszenen, Stilleben und Interieurs, Aktbilder. Die Darstellungsweise wirkt unspektakulär und ohne jede Dramatik. Worauf es ihm ankam, war keine gesteigerte Expressivität des Malens, sondern eine radikale Subjektivität der Farbe.

Im Grunde blieb er ein Maler des neunzehnten Jahrhunderts, der eine gemächliche Fortsetzung des Impressionismus betrieb. Er war wenig innovativ – es gibt kaum nennenswerte Entwicklungen in seinem Schaffen – und arbeitete dreißig Jahre an seinem Spätwerk. Die ursprüngliche Konzeption der Ausstellung sah vor, insbesondere dieses Spätwerk zu zeigen, was sich jedoch aufgrund der komplizierten Leihgabensituation nur zum Teil verwirklichen ließ. Ein Schwergewicht liegt auf jenen Bildern, die die Grenze zwischen Innen und Außen überschreiten. Der Auflösung der Formen entspricht die gegenseitige Durchdringung der Sujets. Kein Unterschied mehr zwischen Stilleben, Interieur und Landschaftsbild. „Das Frühstück“ von 1930/31: ein gedeckter Tisch mit Teekanne, Tellern, Brotkorb und Obst steht vor der Terrassentür, die den Blick in den sommerlichen Garten freigibt. Am linken Bildrand, fast nicht mehr zu sehen, ein junges Mädchen mit einer Tasse in der Hand.

Die Menschen geraten bei Bonnard oft zu bloßen Randfiguren. Oder sie lösen sich regelrecht auf, in der Natur, in den Farben. Auf den Terrassen- und Gartenbildern, aber auch auf manchem Interieur der späteren Jahre muß man die Personen suchen wie auf einem Vexierbild, so wenig heben sie sich von ihrer Umgebung ab. Wie die Farben der Natur die menschliche Gegenwart überschatten, so macht ihre Betrachtung die Menschen selbst vergessen.

„Malt Bonnard das Glück, oder liegt es im Malen selbst?“ fragt Armin Zweite im Katalog und spekuliert weiter, ob es „vielleicht weniger das Glück als die Erinnerung daran“ sei. Eines der letzten Bilder, die 1945/46 entstandene „Landschaft mit roten Dächern, Le Cannet“, stützt die Vermutung. Es ist der alltägliche Blick aus dem Fenster seiner Villa „Le Bosquet“, über das rote Dach hinweg in die Obst- und Olivengärten. Alles erscheint unscharf, wolkig, und nur das Rot des Daches und das Grün eines nahen Baumes zeichnen eine begrenzende Kontur. Zugleich erreicht das Bild einen eigenen Grad der Auflösung und der subtilen Abstraktion. Vielleicht malte Bonnard ja einfach nur das Vergessen. Oder die Selbstvergessenheit beim Anblick der Dinge und der Natur. Das Glück läge dann wohl in dieser Auflösung: in der (eigenen) Schöpfung.

Der Maler und sein Sammler

Picasso hielt nichts von Bonnard. „Was der macht, das ist keine Malerei. Er kommt nie über seine eigene Sensibilität hinaus ... Bonnard ist in Wirklichkeit gar kein moderner Maler: Er unterwirft sich der Natur, er geht nicht über sie hinaus.“ Nein, die Natur hat Picasso, vor allem in seinen späteren Jahren, kaum noch interessiert; ihm genügte ein einziger, freilich wechselnder Innenraum.

Sein Atelier ist eine Bühne, gegeben wird das immer gleiche Stück. Es treten auf: das Modell, der Maler und sein Bild. Die Handlung: Das Modell zieht sich aus, der Maler guckt, malt, guckt wieder, das Modell guckt auch, und schließlich guckt sogar das Bild. Ein klassisches Dreiecksverhältnis. Aber halt, die Inszenierung hat diesmal einen unerwarteten Akteur: den Sammler. Unglücklicherweise erscheint er nicht – wie ehedem der Stifter – auf einem der Bilder, sorgt aber für die blendende Szenerie der Bühne. (Dem trägt der Katalog der Kölner Ausstellung Rechnung. Die Beiträge sind zur Hälfte Picasso und zur Hälfte Peter Ludwig gewidmet.)

Vielleicht ein Fall von Identifikation des Sammlers mit dem Maler? In ihrer Leidenschaft fürs Unerschöpfliche stehen sie einander jedenfalls kaum nach. Worauf man zeichnen und was man bemalen, was man kneten, formen und zusammenbasteln kann, das läßt sich schließlich auch käuflich erwerben und horten. Die Ausstellung präsentiert 180 Gemälde, Zeichnungen, Keramiken und Skulpturen sowie 200 graphische Blätter. Zusammengetragen aus den ständigen Sammlungen sowie den verschiedenen Leihgaben Ludwigs an andere Museen, bietet sie mit enzyklopädischer Verve einfach alles: neben dem hinlänglich Bekannten und Begehrten, neben Blau und Rosa, kubistisch und klassizistisch, neben drei großen Graphikzyklen (unter anderem die vollständige „Suite Vollard“) zu guter Letzt und vor allem das Spätwerk.

Spätestes Spätwerk sozusagen. Ihm gehört ein ganzer Raum, der beeindruckendste der Ausstellung: neun große Gemälde aus den letzten paar Lebensjahren zeigen die ganze kreative Unruhe und das kreatürliche Aufbegehren gegen den Tod.

Am Ende des Stücks beginnt der Maler sich zu verkleiden, nicht als Malerfürst und nicht als lamentierender Melancholiker. Picasso inszeniert sich als lebenslanger, überlebter Kämpfer, der dem Betrachter und sich selbst eine Nase dreht. Mal als galanter Grandseigneur, mal als stoppelbärtiger Musketier, mal als Marodeur der Wollust. Der Pinsel ist ein Degen, den er am Heft festhält, um nun trotzig über dessen Knauf hinweg aus dem Bild zu starren – die Pose des traditionellen Malers beim Maßnehmen („Musketier mit Degen“, 1972). Sinnlich bis in den letzten Bildwinkel, aber ohne jede Heiterkeit und Ruhe. Der Maler ist in Eile, flüchtig schaut er in den Spiegel seiner Bilder, erkennt sich nicht und spannt die nächste Leinwand auf.

Der Maler und sein Freund

Sam Francis hält viel von Bonnard. Im Katalog zur großen Retrospektive in der Bonner Bundeskunsthalle, die ihm sein Freund Pontus Hulten eingerichtet hat, findet sich ein Text von Francis auf den bewunderten Franzosen. Darin heißt es: „What I am saying is what his art reminds me of, that nothing reminds me of art while art reminds me of everything.“ Nichts erinnert ihn an Kunst, während Kunst ihn an alles erinnert. An den Bauch von Paris und daran, daß Tokio ein merkwürdiger Ort ist, um von Bäumen zu träumen. An den reinen Terror des bürgerlichen Lebens und daran, daß die Leere überall einsickert.

Sam Francis ist immer viel gereist und unterhielt gleichzeitig Ateliers an mehreren Orten, in Tokio, in Kalifornien, in Paris. Deshalb, vielleicht, ist alles in seiner Kunst mit weitausholender Geste angelegt und von geographischer Großzügigkeit: seine Farbgebung und seine Formate, sein Umgang mit der Fläche – und mit der Leere. Die Bilder überdehnen ihre Grenzen, expandieren – und können sich doch verdichten und konzentrieren.

Verdichtung und Ausdehnung leiten daher die Ausstellung selbst. Dem Intendanten Hulten stand die gesamte Fläche der beiden Etagen in der Bundeskunsthalle zur Verfügung. Und er macht sich deren Weite ausgiebig zunutze. Die Hängung der Bilder ist, ganz im Gegensatz zur Enge der beiden vorherigen Ausstellungen – „Territorium Artis“ und der Präsentation von Arbeiten aus dem Museum of Modern Art (N.Y.) –, unerwartet großräumig und luftig.

Dabei beginnt gleich der erste Saal mit einem Rundumschlag. Alles, das gesamte Werk mit einem einzigen Blick überschaubar zu machen – kein geringer, aber ein geglückter Anspruch. Von den frühen wattig-grauen, fast monochromen Pariser Bildern läuft der Blick über die an Expressivität, Farbigkeit, aber auch an leerer Fläche „zunehmenden“ Bilder der späten fünfziger Jahre bis zu den „Edge- Paintings“, auf denen nur noch die Ränder einen Farbauftrag aufweisen. Man kann für einen Moment in der schmalen Eingangstür stehenbleiben und diesen Raum und seine Bilder lesen, von links nach rechts wie einen kalligraphischen Text, eine Biographie en peinture. Den knallig-grellen Schlußpunkt – einen Doppelpunkt– setzen zwei unbetitelte Werke von 1988/89.

Noch besser jedoch kann man diese malerische Entwicklung anhand des opulenten Kataloges durchblättern – fast wie bei einem Daumenkino (wenn er nicht so schwer wäre). Sukzessive leeren sich da die Bilder zu den Rändern hin, bis nur noch schmale Farbstreifen stehenbleiben, welche die riesigen weißen Flächen umgrenzen. Von dort aus wandern sie als Farbfelder ins Innere der Fläche zurück, verdichten sich schließlich zu den „Grid-Paintings“, deren Gitterraster fast schwarz erscheinen. Doch der Eindruck täuscht. Sam Francis verwendet niemals Schwarz, nicht als Farbe. Sein Schwarz kommt durch die Überlagerung von Blau, Purpur und Grün zustande. Gerade deshalb bemerkt man das Spiel der Farben in den Binnenflächen und seine Machart nicht sofort.

„Making art is forgetting“, meinte Sam Francis einmal. „Ausstellung machen heißt sich erinnern“, hält sein Freund Pontus Hulten dagegen. Die Ausstellung gestaltet die Erinnerung an dieses Vergessen und Sich-Verlieren. Wer will, kann hier seinen eigenen Farb-Rausch erleben, sein kleines blaues Wunder angesichts der wäßrigen Oberfläche von „In Lovely Blueness“ oder wie ein Zellforscher seiner „Krötennatur nachspüren“ (Francis) vor den Plasma-Gebilden der „Blue Balls“. Allmählich verschwimmen die Bilder zu einem einzigen – und das scheint auch der Hintersinn der Anordnung und der Ausstellungsarchitektur: kein Standpunkt, bei dem man nur ein einziges Bild wahrnähme, immer schieben sich andere dazwischen, flüchtig oder nachdrücklich, zwängen sich in den Augenwinkel. Sichtbar in den Durchbrüchen und Türöffnungen, infiltrieren sie die konzentrierte Betrachtung mit neuen Farbschichten, fernen Nuancen.

Man merkt dem Freund Hulten die Begeisterung für den Maler Francis an. Um die zweihundert Bilder, Gouachen, Radierungen, Lithographien, Monotypien hat er in aller Welt zusammengeborgt. Ärgerlich ist nur der Textteil des Katalogs: ein einziger, noch dazu schwafeliger Essay aus der Feder Hultens – die Nachsicht des Alten mit sich selbst hat auch ihn, den Macher, eingeholt.

Fortsetzung nächste Seite

Fortsetzung

Antwort der Königin

Die drei Ausstellungen schwimmen derart kräftig auf einem Strom, daß ihre (ästhetische) Bugwelle über die Ufer des gegenwärtigen Geschmacks tritt.

Bei großen Namen fällt das um so leichter. Von theoretischem Anspruch der Ausstellungen ist ebensowenig zu spüren wie von analytischen Probebohrungen (die Bonnard-Ausstellung bildet, in Teilen, die Ausnahme). Das muß auch nicht sein und wäre grundsätzlich völlig in Ordnung. Doch der Betrachter fragt sich schon, ob sich da etwas ankündigt, wenn drei derart gewichtige und hochkarätig bestückte Ausstellungen fast ohne jeden Tiefgang auskommen.

Man kann sich mitunter des Eindrucks nicht erwehren, daß, was einmal die Gretchenfragen der Moderne waren, nämlich die haltlose Suche nach der Form, der fortwährende Bruch mit der Tradition, die rücksichtslose Zerstörung der Konvention, jetzt, am Ausgang des Jahrtausends, gehandelt wird wie die unerwartete Antwort der Königin an Rumpelstilzchen. Am Ende weiß man eben, was Kunst immer und vor allem ist: Schönheit, Harmonie, wohltuende Form. Und dem Betrachter ergeht es wie im Märchen: Was sich in diesem Jahrhundert vor seinen Augen entfaltet hat, entpuppt sich als Prozeß der Schöpfung selbst, nur ein bißchen moderner, mitunter wissenschaftlicher: statt des ewigen Werdens und Vergehens ein osmotischer Prozeßverlauf zwischen Chaos und Ordnung. Ob nun als hemmungslose Harmonie oder heitere Herrlichkeit (Bonnard), als obsessive Orgie oder sinistre Selbststilisierung (Picasso), als kosmisches Dripping oder als Koloratur der Leere (Francis).

Ist es das, was diese Ausstellungen uns mitteilen wollen? Die Jahrtausendwende als Drehtür? Die Malerei als Ausflucht aus der selbstverschuldeten Mündigkeit und Rückkehr ins Reich der Sinne? Die Moderne als Aufhängung und Angelpunkt für jene verloren geglaubte Harmonie mit der Natur, der Welt, dem Kosmos? Als Frieden für die Augen und den Geist? Hier kann man, Provinz hin, Metropole her, Matisse in New York und Paris und Cézanne in Tübingen getrost dazurechnen und den neuen Sensualismus willkommen heißen. Wie sonst ließe sich soviel Schönheit auf einmal erklären?

Pierre Bonnard: Das Glück zu malen. Kunstsammlung Nordrhein- Westfalen, Düsseldorf. Bis zum 12.April. Katalog: 39 DM

Pablo Picasso: Die Sammlung Ludwig. Museum Ludwig, Köln. Bis zum 16. Mai. Danach (ohne die graphische Sammlung) im Germanischen Nationalmuseum, Nürnberg. 18.6. bis 10.10. Katalog der Zeichnungen, Gemälde und plastischen Werke 49 DM, Katalog der druckgraphischen Werke 49 DM

Sam Francis. Kunst- und Ausstellungshalle des Bundesrepublik Deutschland, Bonn. Bis zum 18.April. Katalog: 78 DM, in Leinen (Ed. Cantz) 118 DM