Glaube an das schnelle Geld

Anlage-Betrüger haben 500.000 St. Petersburger um Ersparnisse und den Glauben an die Marktwirtschaft gebracht  ■ Aus St. Petersburg Matt Bivens und Maxim Korzhow

In wahren Pilgerzügen strömen jeden Freitag Hunderte St. Petersburger – Opfer des „Jahrhundertschwindels“, wie die örtlichen Zeitungen das nennen – den Suworowski-Prospekt hinab, um sich vor dem Amtssitz des Bürgermeisters zu versammeln. Häufig kommen sie müde und durchfroren dort an, weil die Oberleitungsbusse mal wieder ausgefallen sind.

„Es ist kein Zufall, daß heute die Busse nicht fahren“, behauptete eines Freitags Wjatscheslaw Maritschew – ein Führer der neokommunistischen Organisation „Naschi“ – vor 1.500 Menschen, die sich vor den Toren des Smolny, dem Sitz des Bürgermeisters, versammelt hatten. „Die Oberleitungsbusse fallen auf geheimnisvolle Weise aus, sobald wir uns hier versammeln wollen.“

Es ist unwahrscheinlich, daß die Stadtverwaltung die Busfahrpläne absichtlich änderte, aber in Maritschews Behauptung steckt ein Körnchen Wahrheit: Die Stadträte von St. Petersburg haben wirklich Angst vor der Wut der Menschen, nachdem Hunderttausende Petersburger Geld und Privatisierungsschecks an Schwindelfirmen verloren haben.

Die freitägliche Menge wurde besonders laut, als die Redner in die Mene riefen, der russische Vizepremier Boris Fjodorow halte eine Pressekonferenz ab. „Gehen wir hinein, wir wollen ihn sehen!“ riefen sie. Drinnen sagte Fjodorow vor Journalisten, der Petersburger Schwindel zeige, daß die Regierung ihre Bürger nicht vor der Verwirrung um die Wirtschaftsreformen schützen könne.

Nach westlichem Verständnis war der Schwindel unglaublich durchsichtig. Die Gauner hatten den St. Petersburgern versprochen, jede Summe Geldes innerhalb von 90 Tagen vervierfachen zu können. Dabei machten sie sich die weitverbreitete Verwirrung über das russische Privatisierungsprogramm und die geschäftliche Naivität der Menschen zunutze.

Die Geschäfte wurden in heruntergekommenen Einraumbüros abgewickelt, die von Männern in den Polizeiuniformen von St. Petersburg bewacht wurden. Die Antragsteller – angelockt durch einen wahren Werbefeldzug in Fernsehen, Radio und Presse – standen wochenlang Schlange, um ihr Geld oder ihre Anrechtsscheine gegen gestempelte Verträge einzutauschen. Viele der ersten Antragsteller erhielten ihre versprochenen 250prozentigen Profite – und die meisten reinvestierten sofort ihre Gewinne.

Der Schwindel flog am 10. Februar auf, als zwei der Firmen – Amaris und Revanche – verschwanden und nur verschlossene Büros, leere Wohnungen und wütende Kundenmassen zurückließen.

Das Verschwinden von Amaris und Revanche führte zu Massenprotesten auf den Straßen, wo die Firmen ihre Büros gehabt hatten – Tausende panischer und schreiender Leute verstopften den Moskowski-Prospekt, eine der wichtigsten Arterien der Stadt.

In der riesigen Kirow-Fabrik waren so viele Menschen auf die Firma Revanche hereingefallen, daß die Kirow-Arbeiter – schon immer als wilder Haufen bekannt – ein eigenes Rächer-Komitee bildeten, das versprochen hat, die Schuldigen zu finden und sie dann „auf dem St.-Isaaks-Platz an den Beinen aufzuhängen“.

Die überarbeitete Polizei appellierte an die Opfer, vorerst keine Anzeigen zu erstatten. „Schreiben Sie Ihre Berichte und behalten Sie sie zu Hause“, sagte Polizeioberst Anatoli Anisimow in einem Aufruf, der im Fernsehen übertragen wurde. „Wir sind einfach nicht in der Lage, so viele Anzeigen auf einmal zu bearbeiten. Wir werden sie später entgegennehmen.“

Offensichtlich ist all dies nur der Anfang. Seit gegen Amaris und Revanche Verfahren wegen Betrugs eingeleitet wurden, hat die Polizei auch Anklage gegen drei andere, ähnliche Firmen angekündigt und untersucht mindestens sechs weitere Fälle.

Der Polizei zufolge verschwanden die Firmen mit Geld und Privatisierungsschecks, die jeweils einen Nennwert von 10.000 Rubel (14 Dollar) haben . Nach Wladimir Baraschnikow, einem Mitglied des Privatisierungsausschusses des Bürgermeisters, verschwand Amaris mit 200.000 Anrechtsscheinen im Nennwert von 10.000 Rubel und 800 Millionen Rubel Bargeld; Revanche mit 200.000 Anrechtsscheinen und 300 Millionen Rubel. Eine dritte Firma, Business Navigator, ist ebenfalls des Betrugs angeklagt, weil sie mit 50.000 Anrechtsscheinen und einem bis jetzt noch unbekannten Geldbetrag verschwand. Zum Vergleich: das monatliche Durchschnittseinkommen liegt bei 12.000 Rubel.

Nach ersten offiziellen Schätzungen haben möglicherweise 500.000 Petersburger – fast zehn Prozent der städtischen Bevölkerung von 5,5 Millionen – an Amaris und Revanche Geld oder Anrechtsscheine verloren. Aber die genaue Zahl der Opfer ist inzwischen umstritten.

Beamte weigern sich mittlerweile, die ersten Schätzungen zu bestätigen, und lassen durchblicken, diese seien zu hoch; eine „Initiativgruppe“ der Opfer behauptet jedoch inzwischen, sie vertrete eine Million Menschen – also fast 20 Prozent der städtischen Bevölkerung.

Betrugsmanöver wie diese bilden eine tödliche Bedrohung für den großen Plan der Jelzin-Regierung, den Kommunismus in den Kapitalismus umzuwandeln. Das Privatisierungsprogramm ist dabei ein Kernstück. Zugleich bildet es eine offene Einladung an Schwindler im großen Stil: Die Regierung hat in ihrer Eile, noch in diesem Herbst jedem der 148 Millionen wahlberechtigten Russen Anrechtsscheine in die Hand zu drücken, nicht genau erklärt, was diese damit anfangen sollen.

Gegner der Privatisierung und Wirtschaftsreform umwerben bereits die Opfer des Schwindels. Bei Versammlungen der Opfer führen prominente kommunistische Führer häufig das große Wort, und kommunistische Zeitungen werden kostenlos verteilt.

Um die Reformen zu retten, will die Stadtregierung von St. Petersburg denjenigen Opfern des Schwindels helfen, deren Ersparnisse vollständig verlorengingen, insbesondere den Älteren; und der Privatisierungsausschuß der Stadt arbeitet an einem Plan, Bürger zu entschädigen, die ihren persönlichen Anrechtsschein verloren. Geld jedoch soll nicht zurückgezahlt werden.

Die meisten Opfer verlangen eine Entschädigung durch die Regierung. Das ist natürlich unwahrscheinlich. Wie Jurij Jakowlew sagte, ein Mitglied des Privatisierungsausschusses des Bürgermeisters: „Die Regierung kann nicht die Kosten übernehmen, wenn andere Menschen dumm sind.“

Jakowlew sagte jedoch, die Regierung müsse einen Teil der Schuld auf sich nehmen. „Wir wußten alle, daß die Privatisierung kommt. Wir hätten Gremien einsetzen müssen, um Bestimmungen auszuarbeiten und Gesetze zu erlassen“, sagte er. „Meiner Meinung nach ist dies eine gute Lektion für uns alle – für die Bürger, die Polizei und den MBR (ehemaliges KGB).“

Frentijew, der Assistent von Bürgermeister Sobtschak, gibt sich zuversichtlich, daß die Verbrecher gefangen würden, weil derart riesige Geldsummen schwer zu verstecken seien. Aber dies ist sehr optimistisch in einem Lande, aus dem täglich unglaubliche Summen an Geld, Holz und militärischer Ausrüstung verschwinden. „Die ganze Sache ist wild“, sagte Swetlana Moknatschjowa. „Wir legten Geld bei Revanche an, in einem Büro in der Nähe der Kirow- Werke. Es waren sehr viele Leute da, und die Polizei sorgte für Ordnung. Wir sahen Polizei, und wir sind daran gewöhnt, der Polizei zu vertrauen.“

Moknatschjowa, die als Lehrerin 48.000 Rubel im Jahr verdient, verlor 20.000 Rubel an Revanche. An Amaris verlor sie ihre eigenen und die Anrechtsscheine ihres Mannes. Amaris hatte versprochen, die Anrechtsscheine und zusätzlich drei- bis zwölftausend Rubel Profit zurückzugeben.

„Die Regierung sollte sich dafür verantworten. Wir dürfen nicht darunter leiden“, sagte sie. „Wir sind das alles nicht gewöhnt, diese Geschäfte. Wir sind daran gewöhnt, nach einem Plan zu leben. Man hat uns gelehrt, einem Stempel zu vertrauen, wenn wir einen sehen. Wo war die Regierung?“

Polizei- und Regierungsvertreter allerdings geben sich überrascht, daß sich kein einziger Bürger jemals die Mühe machte, die Angaben der Firmen bei den Behörden nachzuprüfen, noch sich beziehungsweise die Firmen fragte, woher solch ungeheure Profite kommen sollten.

Die Bürger ihrerseits fragen sich, wie diese Firmen die Erlaubnis erhielten, sich Polizeiunterstützung zu verschaffen, Büros in prominenten Gebäuden im Eigentum der Regierung zu mieten und freizügig in Regierungs-Radio und -Fernsehen und in städtischen Zeitungen zu werben.

„Wir glaubten ihnen“, sagte die 87jährige Nina Kastarskaja, die ihre jährliche Rente von 84.000 Rubel durch eine Anlage von 40.000 Rubel bei Amaris aufbessern wollte. „Wir sind ein sehr naives Volk. Wir glaubten an leichtes Geld.“

Aus dem Amerikanischen von Meinhard Büning