Das Mysterium der Milliardenschecks für Rußland

■ Westliche Kreditversprechungen erfolgen stets nur als Reflex auf Jelzin-Krisen

Der russische Vizepräsident Alexander Ruzkoi bezeichnet westliche Hilfe nur noch als „mystisch“. Auch wenn Ruzkoi als Skeptiker gegenüber radikalen Wirtschaftsreformen bekannt ist – bezogen auf die Hilfe des Westens hat er recht. An die Milliarden-Pakete der reichen G-7-Industriestaaten für den ersten demokratisch gewählten Präsidenten Rußlands muß man schon glauben – sehen kann man sie nicht. Denn über die Kredite hinaus, die die G-7-Staaten USA, Japan, Bundesrepublik, Frankreich, Großbritannien, Italien und Kanada bereits Michail Gorbatschow versprochen hatten (11 Milliarden Dollar), ist kaum Geld geflossen.

Ausbezahlt wurden 1992 an neuem Geld lediglich 1,2 Milliarden Dollar Kredite plus 1,3 Milliarden Dollar an IWF- und Weltbank-Krediten. Geschenkt wurden dem Land, dessen Stabilisierung den Weltpolitikern West als oberstes Ziel gilt, 1,6 Milliarden Dollar. Offiziell, in einer Schätzung des Internationalen Währungsfonds (IWF) über den „Ressourcenfluß für Rußland im Jahr 1992“, sieht die Hilfsbilanz natürlich viel besser aus: Die Zinsrückstände (6,8 Mrd. Dollar) und umgeschuldete Rückzahlungen (7,1 Mrd. Dollar) werden großzügig eingerechnet, obwohl es sich dabei um Geld handelt, das Rußland zur Bedienung der Gorbatschowschen Sowjetschulden hätte zahlen müssen. So errechnete der IWF – einschließlich des erwähnten 11 Milliarden-Kredits für Gorbatschow – stolze 29 Milliarden Dollar als „Ressourcenfluß 1992“.

Dafür mußten die G-7-Staaten nicht einmal ihr 24-Milliarden- Dollar-Paket vom Münchner Weltwirtschaftsgipfel komplett losschicken, sondern nur einzelne Teile umpacken. Die zurückgehaltenen Reste, darunter der Sechs- Milliarden-Stabilisierungsfonds für den Rubel, lassen sich nunmehr – sei es auf dem Außen- und Finanzministerstreffen am 14./15. April oder erst beim regulären Wirtschaftsgipfel im Juli in Tokio – für neu zu schnürende Carepakete recyclen.

Und seit Freitag kann der Westen seine Hilfsbilanz um weitere 15 Milliarden Dollar aufpeppen: Soviel, hieß es, sei die Umschuldung wert, auf die sich die im Pariser Club zusammengeschlossenen 18 Gläubigerstaaten am Freitag abend verständigt haben, weil damit Rußland die fälligen Zinsen und Tilgungsraten gestundet werden.

Kein Interesse zu erfahren, wo das Geld geblieben ist

Diese Entlastung kostete den stellvertretenden russischen Ministerpräsident Alexander Schochin das schriftliche Anerkenntnis, daß Rußland für die „Gültigkeit der Auslandsschulden der ehemaligen Sowjetunion“ einstehen wird – ein Papier, auf dessen Unterzeichnung besonders die Bundesrepublik Deutschland als größter Gläubiger bestanden hatte.

Was Wunder also, daß in Rußland kaum jemand mehr an den Geldregen aus dem Westen glaubt – zumal, wenn die Tropfen in Kredit-Form ankommen. Die Erkenntnis, daß Kredite teuer sind und Schuldenberge von selber wachsen, hat in Rußland bereits dazu geführt, daß die Regierung nicht einmal jenes Geld ganz von der Weltbank abgehoben hat, über das sie als Mitglied frei hätte verfügen können – immerhin runde 2,5 Mrd. Dollar. So wäre nicht einmal mehr der Fall auszuschließen, daß sich der Westen „von seiner selbsterzeugten Hilfsdynamik hinreißen läßt“, wie Finanzstaatssekretär Horst Köhler letzte Woche warnte, und neue Kredite freigibt – die russische Regierung diese aber gar nicht haben will.

Ein weiteres Mysterium der Finanzhilfe West liegt darin, daß es – zumindest offiziell – niemanden bislang interessiert hat, wofür das Geld bisher in Rußland eingesetzt worden ist. So schleppt die russische Regierung einen 80-Milliarden-Dollar-Schuldenberg aus alter Sowjetzeit mit sich herum, ohne daß irgend jemand wüßte, wo das Geld geblieben ist. Westliche Rußland-Kenner halten es auch heute mit guten Argumenten für absolut sinnlos, weitere Milliarden an Rußland zu geben, wenn nicht vorher klar ist, wer sie dort für was ausgeben wird.

Daß mit Milliarden-Schecks nicht automatisch eine neue Marktwirtschaft aufblüht, diese Erkenntnis hat Boris Jelzin den G-7-Regierungen auf dem Münchner Wirtschaftsgipfel im Juli 1992 durchaus vermitteln können. Die Siebenergruppe versprach damals, langfristige partnerschaftliche Zusammenarbeit, technische Hilfe und wechselseitige Studenten-Austauschprogramme. Private und gemeinnützige Gruppen sollten einbezogen werden, überschaubaure Gemeinschaftsprojekte als positive Beispiele („Leuchttürme“) der skeptischen russischen Bevölkerung zeigen, wie gut Marktwirtschaft funktionieren kann.

Daraus ist, außer exzessivem „Beratungstourismus“ (Köhler), bislang nichts geworden. Schlimmer noch: In der derzeitigen Krise um Jelzin setzte nur wieder der Hilfspaket-Reflex im Westen ein. Wobei sich Bonn auf den Hinweis beschränkt, daß es ja bisher am meisten getan (sprich: gezahlt) habe, nunmehr die anderen G-7-Länder dran seien.

Japans Regierung übernahm dieses Argument der Deutschen in Maßen und versprach, daß sie sich durchaus an multilateraler Hilfe beteiligen werde – erstmals unabhängig von einer Rückgabe der Südkurilen, jener vier kleinen Inseln, die die Sowjetunion nach dem Zweiten Weltkrieg annektiert hatte. Die Vorschläge des neuen US-Präsidenten Bill Clinton enttäuschten die Westgemeinschaft jedoch: Schlappe 500 bis 600 Millionen Dollar, noch dazu aus alten Hilfspaketen, will Clinton in diesem Jahr zahlen, in den nächsten Jahren sollen es 700 Millionen bis einer Milliarde Dollar werden.

Dennoch hat Clintons Vorschlag eine neue Qualität: Erstmals hat sich ein G-7-Regierungschef ausführlich Gedanken darüber gemacht, an welchen Stellen gezielt Reformen unterstützt werden sollten: in der Landwirtschaft, bei der Privatisierung, im Ausbildungswesen, beim Wohnungsbau, beim Aufbau demokratischer Institutionen. Die Siebenergruppe, so Clintons Vorschlag, sollte dann die Reformen absichern, indem sie die Opfer des Transformationsprozesses (Rentner, Arbeitslose und andere Bedürftige) direkt finanziell unterstützt. Das würde pro Jahr wegen des niedrigen Rubelkurses 5 bis 8 Milliarden Dollar kosten. Der Westen, so Clintons Argument, könne politisch viel dadurch gewinnen, wenn er die Russen von einem „menschlichen Antlitz des Kapitalismus“ überzeugen könnte. Die russischen Reformer wären dann für die kritische Phase des Umbaus vor sozialen Unruhen sicher.

Hilfskonzept als Absicherung gegen soziale Unruhen

Ein ähnliches Konzept hatte auch der Pariser Ökonomie-Professor Emil-Maria Claassen kürzlich vorgestellt: Während der Westen die seiner Meinung nach unausweichliche Massenarbeitslosigkeit quasi über eine Arbeitslosenversicherung erträglicher macht, könnten die Reformer das Haushaltsdefizit – das in diesem Jahr vermutlich 20 Prozent des Bruttosozialprodukts erreichen wird – abbauen und damit die Inflation abbremsen. Gleichzeitig könnte, bei festgesetzten Kursen zwischen Rubel und Dollar, der Stabilisierungsfonds des IWF für den Rubel sinnvoll eingesetzt werden. Im Gegensatz zu Clinton glaubt der Professor allerdings selber nicht, daß ein derartiges Reformpaket mehr sein kann als „ein frommer Wunsch“, solange der Machtkampf zwischen Regierung und Parlament andauert. Donata Riedel