Eine Stadt leistet Widerstand

■ Es schneit nicht mehr, Menschen stehen Schlange, die ersten Forsythien blühen, zwei Theaterpremieren werden vorbereitet

Vor etwas über einem Jahr begann das Festival der Kleinkultur und der experimentellen Szene nicht nur Sarajevos, sondern ganz Ex-Jugoslawiens. Am 27. März, dem Welttag des Theaters, gingen die Vorhänge der vier besten Säle Sarajevos auf. Die Karten waren schon seit langem ausverkauft, die Stadt atmete für das Theater. Das Festival ist in seinem 30. Jahr unter Granatenbeschuß gestorben, sein Hauptort, das „Volkstheater“, das für die Winterolympiade 1984 getreu dem Stil der österreichisch- ungarischen KuK-Monarchie renoviert worden war, dient heute als Schutzkeller für die Kostüme und Perücken all der Othellos, Carmens, Mutter Courages und Parsifals. Daneben lagern wie vergessen die Instrumente des verschwundenen Philharmonischen Orchesters von Sarajevo.

Über der bosnischen Hauptstadt donnern die Granaten von den umliegenden Bergen, pfeifen die Schüsse der Mörder. Die Musik meiner Stadt ist nicht mehr diejenige, die einst so enthusiastisch von den Jungen und Mädchen bei Rockkonzerten gespielt wurde. In den besten Zeiten gab es an die zehn Rockgruppen in der Stadt, sie waren ohne Konkurrenz in ganz Ex-Jugoslawien. Ich kann nicht glauben, daß auch nur eineR dieser jungen MusikerInnen seine Baßgitarre, sein Saxophon oder seine Keyboards gegen eine Kalaschnikow getauscht hat. Aber es heißt, manche hätten es doch getan.

Vor einem Jahr ging dieser Tage auch der höchste moslemische Feiertag „Bajram“ zu Ende. In der Stadt sollten Lichterkränze von siebzig Moscheen erstrahlen. Am schönsten war wie immer die erleuchtete Gazi-Husrefbeg-Moschee im Zentrum mit ihrer „Sahat Kula“ (Kula-Turm). Seit über fünfhundert Jahren pulsierte das Herz des orientalischen Sarajevo an dieser Stelle. Das orthodoxe und das katholische Ostern, und auch das jüdische Pessahfest standen vor der Tür.

Die Schützen sind Menschen, nichts ist ihnen heilig

Als wir Studenten waren, besuchten wir oft bei unseren Spaziergängen auf den Hügeln um Sarajevo den 500 Jahre alten jüdischen Friedhof und legten drei Steinchen auf die schönen, gemeißelten Steinplatten. Von dort werden jetzt die Granaten aus schwere Artilleriegeschützen abgefeuert. Die Schützen sind Menschen, die uns und unsere Stadt hassen. Sie hinterlassen leere Granathülsen, als Zeichen, daß sie da waren. Ihnen ist nichts heilig, nicht mal die beste und größte orientalische Bibliothek Europas, nicht die 500 Jahre alte Hagada, nicht mal die protestantische Kirche aus dem 18.Jahrhundert, in der sich vor einem Jahr die Kunstakademie befand. Nicht die Gebäude der Universität von Sarajevo, die 1948 gegründet wurde, nicht die sechs städtischen Gymnasien, nicht die ungefähr zehn Galerien, nicht die Universitätsbibliothek im Rathausgebäude vom Ende des 18.Jahrhunderts, nicht die neuen Straßenbahnen, Schulen, Häuser, Parks, die hundertjährigen Kastanienalleen. Und vor allem nicht die Leute, die all das geschaffen, bewahrt und gepflegt haben.

Sie haben das Gebäude des neuen Verlagshauses „Oslobodjenje“ (Befreiung) zerstört, sie haben die Fassaden der barocken Gebäude im Zentrum der Stadt in Schutt und Asche gelegt, die Gärten und Höfe der schönen bosnischen Häuser. Die letzten Nachrichten aus Sarajevo: Es sind 17 Flugzeuge mit humanitärer Hilfe gelandet, es schneit nicht. Zwei Premieren werden vorbereitet, die Studenten der Kunstakademie und ihre Professoren bereiten eine Ausstellung vor, in den Gärten blühen die Forsythien. Alle zwölf Kinosäle sind geschlossen, Radio Bosnien-Herzegowina sendet sein Programm, die Ärzte kämpfen um die Leben der Verwundeten, die Menschen stehen in Schlangen um Lebensmittel an. Man hört die Schüsse von den umliegenden Bergen, es gibt keinen Strom, kein Wasser. Sarajevo leistet Widerstand. Und Europa? Lejla Stern