„Wir haben jetzt die Stadt, aber keine Freunde mehr“

■ Die geschundenen Menschen in Bosnien-Herzegowina, ob in Mostar, in Travnik, Tuzla oder Kiseljak, haben sich an den Kriegsalltag in ihrem Land gewöhnt

Die Menschen haben sich an den Krieg gewöhnt. Bei einem Artillerieangriff in der herzegowinischen Hauptstadt Mostar schlagen die Granaten etwa 200 Meter von der Hauptverkehrsstraße entfernt ein. Eine alte Frau duckt sich hinter eine Mauer. Als nach einem Weilchen keine Granate mehr zu kommen scheint, richtet sie sich auf und geht weiter, als sei nichts geschehen. Auch Visoko in Mittelbosnien liegt im Bereich der serbischen Artillerie. Kaum zwei Kilometer von der Frontlinie entfernt, versuchen die Menschen ihr normales Leben aufrechtzuerhalten. Selbst des Nachts brennt das Licht vor der Haustür, die Fenster sind hell erleuchtet, der Schimmer des Fernsehers dringt nach außen.

Überall in dem von der bosnischen Regierung kontrollierten Gebiet wird gebaut. Selbst in den Gebieten, wo gerade einige Tage oder Wochen vorher die heftigsten Kämpfe vor sich gingen, arbeiten Handwerker an neuen Häusern. Ob in Travnik, in Busovaca, ob in der Umgebung von Tuzla oder in Kiseljak, überall bauen Menschen an neuen Häusern. Es ist, als wollten sie zeigen, daß sie hier weiterleben wollen, daß sie hier eine Zukunft sehen, daß sie sich nicht vertreiben lassen. Überall werden die Kirchen und Moscheen renoviert.

„Einer der Gründe des Krieges auf dem Lande ist“, sagte kürzlich ein bosnischer Filmemacher, „daß jede Familie ihr Haus verteidigen will.“ War erst einmal das nationale Mißtrauen, die „andere Gruppe“ wolle die eigene vertreiben, gesät, war auch die Kampfbereitschaft schnell da. Selbst in den Gebieten, wo die gesamte muslimanische und kroatische Bevölkerung im Mai 1992 unter schrecklichen Begleitumständen vertrieben wurde — viele Tausende wurden ermordet —, hatten „wir, die Nachbarn, vorher uns geschworen, uns gegenseitig zu helfen“. Oftmals blieben die Schwüre Lippenbekenntnisse.

Das Mißtrauen wurde von den Extremisten systematisch geschürt. Waffen wurden ausgegeben. Nachbarn fielen über Nachbarn her. Extremisten, Totschläger, Kriminelle hatten freie Hand. Wo sich Muslimanen und Kroaten wehrten, rückte die serbisch-jugoslawische Armee mit ihren schweren Waffen ein. In der West-Herzegowina stieß sie auf organisierten Widerstand, dort hatten kroatische Ausbilder die dörflichen Territorialeinheiten auf den Krieg vorbereitet. Auch in den Gebieten, wo die Muslimanen eindeutig in der Mehrheit waren, organisierte sich eine bewaffnete Schutztruppe, die später in der bosnischen Armee aufging.

Vor allem dort jedoch, wo strategische Interessen, so die Eroberung des „Korridors“ von Serbien nach Banja Luka, im Spiele waren, und dort, wo die nichtserbische Bevölkerung die Waffen abgegeben hatte, wie in den Dörfern um Foca, wie in Prijedor, fanden die größten Verbrechen statt. Dort wurden die großen Konzentrationslager errichtet, dort wurden die Massenvergewaltigungen begangen. Manche dieser Lager existieren immer noch. Natürlich gibt es auch Beispiele guter Nachbarschaft, manchmal versuchten Serben, ihre Nachbarn zu schützen, nicht selten wurden sie deshalb genauso behandelt wie diese. „Als sie kamen, wollten sie Zoran dazu zwingen, mir ein Leid anzutun. Er weigerte sich. Sie folterten ihn zu Tode“, erzählte kürzlich eine muslimanische Frau aus Klujić in einem Zagreber Flüchtlingslager.

„Ohne die internationale Hilfe hätten wir nicht überleben können“, erklärt Enes Daljevic, der für die Verteilung der Lebensmittel in Tuzla mit zuständig ist. Seit sich die internationale Gemeinschaft angesichts des drohenden Hungertodes von Hunderttausenden im Herbst 1992 dazu entschlossen hatte, Hilfe zu senden und diese Hilfslieferungen mit UNO-Truppen abzusichern, ist die „Pomoc“, die Hilfe, tatsächlich zum Lebenselexier der Bosnier geworden. Und zu einer der größten Korruptionsquellen. Denn seit die Hilfe rollt, versuchen sich auch die unterschiedlichen Armeen aus dem Fundus der Hilfsorganisationen zu bedienen. Auf der Strecke von Kiseljak nach Sarajevo müssen die Lastwagen der privaten Hilfsorganisationen ihren Zoll entrichten, ein Drittel der Ladung geht an die serbischen Tschetniks.

Aber auch die kroatische HVO bedient sich bei den Hilfslieferungen, die ins innere Bosniens gehen. Im zentralen Bosnien selbst ist auch die bosnische Armee auf Zuwendungen aus den Hilfsgütern angewiesen.

„Ich frage mich, was die Serben auf der anderen Seite denken.“ Nazif. F. ist Offizier der bosnischen Armee in Travnik. Hier fanden ab Oktober letzten Jahres heftige Kämpfe statt, nachdem die Nachbarstadt Jaice gefallen war. In Jaice sind nun viele Häuser zerstört, die serbische Bevölkerung, rund 5.000 der ehemals 40.000 Einwohner, ist zurückgekehrt. „Auch für sie muß sich das Leben doch verschlechtert haben, das Ganze hat doch nichts gebracht“, stellt Nazif fest. „Wir haben jetzt die Stadt, aber keine Freunde mehr“, erwidert Zoran K., ein Ingenieur in Jaice, der das zerstörte Kraftwerk wieder aufbauen soll, auf die ihm überbrachte Frage. Die Stromsperren, der wirtschaftliche Niedergang, die (noch) nicht eingestandene Schuld — alles dies läßt auch viele Serben düster blicken. Der größte Teil Bosniens liegt in Trümmern und „viele Seelen unserer Menschen auch“. Erich Rathfelder, Zagreb