„Wir müssen die Muslimanen zu einer Nation formen“

■ Senad Avdić (33), Chefredakteur der bosnischen Wochenzeitung „Slobodna Bosna“, zum Scheitern des multikulturellen Entwurfs der bosnischen Gesellschaft

„Slobodna Bosna“ ist eine Wochenzeitung, die bis Januar 93 in Sarajevo erschienen war, seitdem jedoch im zentralbosnischen Zenica produziert wird. Wegen des Embargos und des daraus entstehenden Papiermangels kann sie heute nur in einer Auflage von 10.000 Exemplaren erscheinen.

taz: Herr Avdić, Bosnien war mit seinen koexistierenden Religionen, Moslems, Orthodoxe, Katholiken und Juden, jahrhundertelang Quelle der multikulturellen Idee Europas. Gehört das seit Beginn des Krieges alles der Vergangenheit an?

Senad Avdić: Oberflächlich gesehen stimmt diese Charakterisierung bis zum Beginn des Krieges. Wir müssen aber im nachhinein feststellen, daß es schon vorher unter der Oberfläche Entwicklungen gab, die der Idee der toleranten Gesellschaft entgegenarbeiteten. Denn sofort, als die Unabhängigkeit Bosniens auf der Tagesordnung stand, versuchten die Regierungen der Nachbarstaaten Serbien und Kroatien die Situation zu nutzen, um Bosnien aufzuteilen.

Ist es nicht zu einfach, nur die äußeren Mächte für den Zusammenbruch der bosnischen Gesellschaft verantwortlich zu machen?

Sicher, doch ich möchte betonen, daß die Manipulation von außen ihre Wirkung nicht verfehlt hat. So sagt zum Beispiel die kroatische Führung, daß die kroatische Bevölkerung in Bosnien nicht der bosnischen Führung folgen will. Sie behauptet, die Kroaten in Sarajevo hätten ein bestimmtes, spezielles Interesse, spezielle Forderungen. In Wirklichkeit haben die kroatischen Bewohner das gleiche Interesse wie alle anderen, nämlich zu überleben. Durch diese Kampagne jedoch gelang es den kroatischen Nationalisten, die Gefühle vieler Kroaten in der Stadt zu manipulieren. Die serbische Seite hatte dies schon seit Jahren erfolgreich versucht. Das Interesse des serbischen Staates war es von Angfang an, zu behaupten, der Krieg sei ein Bürgerkrieg und nicht eine Aggression serbischer und montenegrinischer Truppen. Indem die kroatische Seite nun ebenfalls die ethnische Gleichschaltung betreibt, ist tatsächlich eine Situation entstanden, die einem Bürgerkrieg ähnlich ist. Natürlich ist der kroatisch-muslimanische Gegensatz nicht so kraß wie der serbisch-muslimanische. Doch er hat die Verteidigung erheblich gestört. Wenn die kroatischen Einheiten und die bosnische Armee zusammenstünden, könnte die serbische Aggression trotz unterlegener Ausrüstung zurückgewiesen werden. Unsere Tragödie ist, daß die meisten Muslimanen und die bosnische Führung zu lange an das Ideal der toleranten Gesellschaft geglaubt haben.

Dieses Ideal war also eine Illusion?

Nicht ganz. In Sarajevo und anderen Städten wie Tuzla funktioniert das alte Bewußtsein im großen und ganzen sogar noch jetzt. Vielleicht verleitete diese Stimmung die bosnische Führung, die ja in Sarajevo sitzt, dazu, eine verfehlte Strategie zu verfolgen. Es wurde nämlich unterlassen, die Muslimanen zu organisieren, wie dies Serben und Kroaten vormachten. Die Führer der muslimanischen Partei versuchten nicht tatkräftig genug, die muslimanische Nation zu schützen. Sie hofften auf einen Konsens im Sinne der Kategorien des alten Bosniens. Ihre Strategie bestand also darin, die Bewaffnung der serbischen und kroatischen Volksgruppe zu ignorieren und zu hoffen, daß der muslimanischen Bevölkerung schon nichts geschehen würde. Angesichts der militärischen Kräfte, die gegen uns stehen – die serbische Seite hat sich ja das gesamte Waffenarsenal der ehemals gemeinsamen Armee angeeignet – wären auch bei besserer Vorbereitung auf den Krieg nicht alle Verbrechen zu vermeiden gewesen, doch hätte man das Schlimmste verhüten können.

Welche Konsequenzen ziehen Sie aus dieser Einschätzung?

Ich meine, wir müssen die Muslimanen zu einer Nation formen. Wir stehen vor der Entscheidung, entweder zu Israelis oder zu Palästinensern zu werden. Die Juden in Israel haben das Klischee vom jüdischen Volk als Opfer abgestreift. Nachdem sie in Israel eine der besten Armeen der Welt aufgestellt haben, werden die Juden ganz anders betrachtet. Ich persönlich ziehe den jüdischen Weg dem der Palästinenser vor. Wir Muslimanen wurden immer als ineffektiv, als Händlertypen, als Leute, die in den Tag hineinleben, als Künstler und Intellektuelle wahrgenommen. Seit es uns aber unter den schwierigsten Bedingungen gelungen ist, der serbischen Aggression wenigstens teilweise zu widerstehen, werden wir schon anders betrachtet. Unsere kollektive Erfahrung nach einem Jahr Krieg lautet: Es gibt nur einen Weg zum Überleben der muslimanischen Nation, und das ist die Militarisierung der Gesellschaft in der Weise, wie es Israel vorgemacht hat.

Gerade das Konzept des toleranten Vielvölkerstaates hat doch den Muslimanen in aller Welt Sympathie eingebracht und der serbischen und kroatischen Propaganda von der „islamischen Gefahr“ entgegengewirkt...

Solange wir lediglich „Sympathien“ genießen, wird der bosnische Standpunkt in den internationalen Gremien nur wenig respektiert. Kaum aber hatte zum Beispiel die bosnische Armee einige Erfolge, genoß unser Präsident Izetbegović bei den westlichen Diplomaten größeren Respekt. Um Überleben zu können, ist die Sympathie der Welt nicht ausreichend.

Wie versuchen Sie, diesen Ansatz in Ihrer Zeitung umzusetzen?

Wir kümmern uns zu allererst um bosnische Themen. Die meisten Journalisten aus Sarajevo kennen die Situation in Bosnien gar nicht mehr aus eigener Anschauung. Das ist zum Teil dem Krieg geschuldet, aber auch der alten zentralistischen Denkweise: man übernimmt einfach die Nachrichten ausländischer Presseagenturen. Im Ausland sitzen Dutzende von bosnischen Journalisten, die angeblich die Wahrheit über Bosnien berichten, aber keiner von diesen Journalisten berichtet aus Bosnien. Als unsere Reporter in die Städte Zentralbosniens kamen, stellten wir fest, daß wir die ersten bosnischen Journalisten aus Sarajevo in dieser Gegend waren. Kein Wunder, daß die Leute den Eindruck haben, vergessen zu sein. Wir versuchen da mit unseren Nachrichten gegenzusteuern. Und damit sind wir Teil einer Entwicklung des bosnischen Bewußtseins. Denn heute geschieht etwas, was noch vor einem halben Jahr undenkbar war: Leute aus Ostbosnien helfen Zentralbosnien zu verteidigen und umgekehrt. Unsere Zeitung will dazu beitragen, dieser Veränderung des muslimanisch- bosnischen Bewußtseins Ausdruck zu verleihen.

Was bleibt vom bosnischen Bewußtsein, wenn der Krieg vorbei ist?

Es hat zu viele Verbrechen in Bosnien gegeben, als daß man nach einem Waffenstillstand wieder zur Tagesordnung übergehen könnte. Deshalb wird der Krieg noch lange dauern, als privater Krieg sozusagen. Denn die Serben werden die eroberten Gebiete niemals wieder hergeben wollen. Auch wenn Karadžić etwas anderes unterschreiben würde, seine Leute würden dies nie akzeptieren. So sind die weiteren Konflikte vorgezeichnet. Es bleibt für uns Muslimanen nichts anderes übrig, als uns auf uns selbst zu verlassen. Das bedeutet nicht, das wir das Prinzip der Toleranz aufgeben. Es heißt nur, daß wir nicht mehr Opfer sein wollen. Interview: Erich Rathfelder