Die Seele Sarajevos liegt unter Trümmern

Ein Jahr leben die Bewohner der bosnischen Hauptstadt nun schon in einem Belagerungszustand. Der Verlust an Menschenleben ist unfaßbar, Gebäude und Infrastruktur sind zerstört. Aber nach wie vor gibt es Leben in Sarajevo.

Der weißlackierte Sarg steht auf dem Rasen, hinten, in einer Ecke des städtischen Friedhofs. Die beiden Frauen, die gekommen sind, um sich ihren Angehörigen ein letztes Mal anzuschauen, tragen Schwarz. „Machen Sie eine Aufnahme, bitte“, fleht die jüngere den Fotografen an. „Ich habe doch kein einziges Bild.“ Als sie den Deckel öffnet, liegt dort der winzige Leichnam.

Matej Sakota war am Vortag gestorben, kaum drei Monate alt – als jüngster von zehn Kriegstoten, die an diesem Tag im römisch-katholischen Teil des Friedhofs von Sarajevo begraben werden. Für seine kroatischstämmige Familie ist die Zeremonie Symbol ihrer zerbrochenen Hoffnungen, ein neuer Schicksalsschlag in einer endlosen Reihe persönlicher Tragödien. Für Sarajevo ist sie Alltag.

Sein Tod sei ausschließlich mangelnder medizinischer Pflege geschuldet, erzählt die Familie, die nur noch trauert, seitdem sie am 14. Dezember aus dem Keller ihres bombardierten Hauses im westlichen Stadtteil Buca Potok fliehen mußte. Damals lebte die hochschwangere Ankica (33) in einem Raum mit ihrem elfjährigen Sohn Boris. Ehemann Antun, ein Elektriker, kam von der Front nach Hause geradelt, und als der Beschuß anfing, war er gerade mit dem anderen Sohn Mario zu ihr ins Zimmer gekommen. Da ertönte ein Riesenknall, und durch das Fenster und die Tür hindurch wurden Vater und Sohn von Granatsplittern am Kopf getroffen. Beide sanken blutüberströmt zu Boden. Ein Nachbar fuhr das Ehepaar mit dem knapp sechsjährigen Mario zum nahen französischen Krankenhaus. Doch noch auf dem Weg starb Mario in den Armen seiner Mutter.

Antun hatte mehr Glück. Er kam ins große Kosevo-Krankenhaus, wo die Granatsplitter aus seinem Gehirn herausoperiert wurden. Heute ist er teilgelähmt, kann nicht mehr klar reden, seine Bewegungen wirken unkoordiniert. Nur wenige Tage später wurde im Chaos der Stadt Matej geboren – infolge des Traumas seiner Mutter einen Monat zu früh. Er wog kaum vier Pfund. Normalerweise ist das Kosevo-Krankenhaus für Frühgeburten gut ausgerüstet, und unter normalen Umständen wäre Matej sofort in den Inkubator gekommen. Aber der Strom war ausgefallen, und es gab weder Licht noch Heizung.

„Ich sehe keinen Sinn mehr darin, hier noch zu bleiben“

Zehn Tage später, als die Stromversorgung wiederhergestellt war, war Matej bereits an Lungenentzündung erkrankt. Einen Monat verbrachte er dann im Brutkasten für Frühgeburten. Dann nahm ihn seine Mutter mit nach Hause, einem neuem Zuhause. Denn nun lebte die Familie in dem etwas sichereren Stadtteil Pofalic, im Haus einer emigrierten kroatischen Familie.

Heizung gab es zwar nur in der Küche, aber Matej schien aufzublühen: Sein Gewicht verdoppelte sich innerhalb eines Monats. „Er erkannte uns“, erinnert sich die Mutter. „Er fing an zu lachen.“ Aber dann erwischte ihn eines jener Grippeviren, die der Winterwind durch die Stadt trägt. Zurück ins Krankenhaus. Und wieder gab es keinen Strom. „Sie gaben ihm Medikamente, aber konnten nicht herausfinden, was ihm fehlte“, sagt seine Mutter. „Sie konnten weder Röntgenaufnahmen noch ein EKG machen.“ Zehn Tage lang blieb Ankica Sakota an der Seite ihres kleinen Sohnes. Und wie Mario vor ihm starb auch Matej in ihren Armen.

Auch Lidija, Ankicas 30jährige Schwester, hat ein eigenes Drama hinter sich. Als der Krieg ausbrach, hatte sie sich ein Jahr lang mit einem serbischen Mann getroffen. „Ich liebte ihn“, sagt sie. „Ich hätte bei ihm bleiben können.“ Aber dann erklärte er ihr, er würde aus Sarajevo wegziehen, „um für Jugoslawien zu kämpfen“. Er meldete sich als Freiwilliger bei der Armee der bosnischen Serben – und starb im Kampf bei Trebinje.

Ankicas jüngerer Bruder, der 23jährige Künstler Dominik, geht jeden Tag an die Front beim Bristol-Hotel, wo er seine ehemaligen serbischen Schulkameraden bekämpft. Seine Kalaschnikow bezahlte er aus eigenen Mitteln, aber er bekommt nur 90 Runden Munition am Tag. Bis vor kurzem wußte er, wofür er kämpfte. Heute weiß er es nicht mehr so genau. „Ich bin hier geboren“, sagt er. „Ich wollte die Stadt vor der Zerstörung bewahren. Aber jetzt sehe ich keinen Sinn mehr darin, noch zu bleiben.“

Die Zeremonie auf dem Friedhof dauert nur vier Minuten. Elf Trauergäste sind erschienen, Blumen gibt es keine. Die Friedhöfe sind voll, und so wird Matejs Sarg auf den Sarg seines Bruders gelegt. Vor allem muß eilig gegraben werden, denn der Friedhof ist ein beliebtes Ziel für die serbischen Angreifer. Roy Gutman, Sarajevo