Nebensachen

■ Jetzt im Ersten: "Die zweite Heimat" von Edgar Reitz

Nie mehr die Liebe. Hermann schwört bei goldgelbem Licht. Und zieht aus, von Schabbach nach München, um Musik zu studieren und das Leben zu lernen. „Man muß sich selbst noch einmal zur Welt bringen, ganz aus sich selbst heraus.“ Das hebt gewaltig an und dauert fast 26 Stunden. Nach einer Stunde sind alle Menschheitsfragen verhandelt: Eifersucht, Ewigkeit, Liebe, Religion, Philosophie, Kunst, Tod. Zu viele Worte für die ersten Minuten. Da weiß einer nicht, wo er anfangen soll, und verheddert sich gleich. Da spricht sich einer frei.

Männerphantasie

Hermann kommt an. Kriegt gleich ein Zimmer. Die Moretti mag ihn. Sie drückt den jungen Komponisten an ihren weichen Sängerinnenbusen. Renate mag ihn auch. Renate, die Häßliche. Sie trägt gerippte Baumwollunterwäsche, bei der Liebe schielt sie und schwitzt. Sie müssen es heimlich tun, im möblierten Zimmer. Hermann darf nicht vergessen, den Klodeckel herunterzuklappen. Clarissa schickt ihm eine Liebeserklärung. Ohne Adresse, aber sie erreicht den Empfänger. Auch Helga, die Polit-Poetin, ist in Hermann verliebt. Bei ihr zu Hause, im westfälischen Dülmen, wird er Beethovens „Sturmsonate“ spielen, und Helga, Marianne und Dorli werden ihn dabei verführen, genau wie Lotti und Klärchen in der ersten „Heimat“ damals auf der Besucherritze in Schabbach. Alle lieben Hermann. Männerphantasien. Ziemlich ehrlich.

Musikhochschule

Das Besteck klappert. Einer markiert den Rhythmus, die andern fallen ein. Stegreif-Konzert in der Mensa. Die älteren Semester präparieren Klaviere, machen Musiktheater mit Staubsauger und Operettenklamauk. Volker komponiert seriell, Hermann leitet ein elektronisches Studio. Die Revolution in der Neuen Musik: Donaueschingen, Kagel, Cage, Boulez. Clarissa streichelt ihr Cello und spielt mit Hermann das ihr gewidmete Stück. Da sind sie sich am nächsten. Ansgar ist eifersüchtig, wenn der Gesangslehrer die Hand auf Evelynes Bauch legt. Erotik des Musizierens. Der Anblick von Volkers Händen auf den Tasten macht nervös: Hoffentlich verspielt er sich nicht. Chronik einer Jugend, das ist die Geschichte von denen, die noch üben. „In der Musik“, sagt Edgar Reitz, „kann man nicht mogeln.“ Der Filmemacher, der einmal Komponist werden wollte, blickt neidisch auf das Handwerk der Musiker. Die Musik entzieht sich der Simulation des Kinos; ihre Authentizität überschreitet die Fiktion.

1968

Nach elfeinhalb Stunden zum erstenmal die Beatles. Befremdet dreht Hermann, der Komponist, die Platte in seinen Händen. Nicht die Beatles, sondern die Neutöner: die erste Verschiebung. Alex, der Schnorrer, liest Wittgenstein. „Ein Freund ist, wer dir Geld leiht.“ Das stammt von ihm selbst. Alfred Edel läuft als Alkoholiker durch die Studentenkneipen und zitiert Adornos „Philosophie der Neuen Musik“. Dann erfriert er im Münchener Winter. Stefan, Rob und Reinhard, die drei Jungfilmer, verteilen Aufkleber. Papas Kino ist tot. Selbstzitate: Alexander Kluges erster Dokumentarfilm und Reitz' Simultanfilm „Varia Vision“ von 1965. Der Unterzeichner des Oberhausener Manifests betrachtet seinesgleichen mit ironischer Distanz. Drogen, die Pille, heimliche Abtreibung, Schwabinger Künstlerkreise, Studentenbuden, Mauerbau, Kennedy-Mord, Notstandsgesetze – all das kommt vor, aber nur nebenbei. „Die zweite Heimat“ erzählt nicht die Geschichte der 68er, sondern der 61er: die zweite Verschiebung. Die Berliner Kommunarden sehen aus wie die, vor denen unsere Eltern uns immer gewarnt haben. Da stellt Reitz sich nichts vor, da stellt er nur nach. Sie müssen ihm angst gemacht haben, diese Revoluzzer. Also bannt er sie ins Klischee.

Jugend

Sie halten sich für Genies und bewegen sich linkisch. Sie komponieren, dichten, filmen. Jeder Tag eine Uraufführung. Sie sind sich selbst um Längen voraus: Komik der Selbstüberschätzung. Ein dahingesagter Satz, eine überstürzte Reise, eine verpaßte Gelegenheit bestimmen Lebensläufe, Karrieren, Familiengründungen. „Alles ist sinnlos, nichts ist Zufall“, gratuliert Alex Hermann und Schnüßchen zur Hochzeit. Jetzt sind sie erwachsen. Manchmal zeigt Reitz die Euphorie des gemeinsamen Aufbruchs und die Einsamkeit, den Hunger nach Freiheit und die Verbitterung, die Sehnsucht und das Scheitern in nur einem Bild. Meist in den Nebensachen.

Pathos

Der Wechsel von Schwarzweiß und Farbe. Diesmal nicht verspielt wie in der ersten „Heimat“, sondern mit Methode: Die Nacht ist bunt, der Tag schwarzweiß. Zu mechanistisch. Bei den Off-Kommentaren vermißt man den Drehbuchautor. Hermann: „Neun Semester standen neben mir wie ein abgegessener Tisch.“ Helga: „Ich bin wie eine Birke, eine Dornenhecke und eine Meduse am Meer.“ Die Jugend: ein Laientheater. In den besten Momenten ist der Film wie seine Protagonisten: lächerlich in seinem heiligen Ernst.

Hermann und Clarissa klammern sich, in eine Decke gehüllt, in der ungeheizten Wohnung aneinander. Sagen verzweifelte Sätze über das Alleinsein und ihre Verletzungen. Peinlich pathetisch. So reden wir wohl alle in solchen Momenten. Aber dann fassen sie ihr Unglück in Verse, bis das Pathos zur Lüge wird. Hermann und Clarissa. Das hohe Paar. Wahre Tragödien geschehen beiläufiger.

Clarissas Coming-out in der „Hexenpassion“, der feministischen Oper in Folge Nummer 13, zwanzig quälende Minuten lang. Bei den Männern spinnt Reitz Phantasien, bei der Frauenbewegung kommt er zur Vernunft. Gut gemeint, schlecht inszeniert.

Bundesrepublik

„Jede Schilderung einer jungen Generation ist immer auch schon ein wenig die Vorausahnung kommender ,bürgerlicher Gesellschaft‘, in diesem Fall: der jetzigen westdeutschen Menschenlandschaft. Hermann Simon, 1960 zwanzig Jahre alt, ist oder wäre heute ein Fünfziger. Seine Weggefährten von damals, genial oder nicht, sitzen heute bereits in der Leitung des Unternehmens Bundesrepublik.“ Zitat Sten Nadolny.

Kino

Die Kamera auf Kniehöhe. Reinhard wirft das Gewehr lässig über die Schulter. „Du siehst aus wie John Wayne“, sagt Olga. Reinhard liebt Western. „Eine Art von Kino“, sagt Olga, „in der keine Frauen vorkommen.“ Und guckt, als stünde sie im Saloon. Kimme und Korn. Helga zielt auf Ansgar, aus Eifersucht wegen Evelyne. Ansgar spielt das Lied vom Tod und fällt röchelnd zu Boden. Das Gewehr war nicht geladen. Stefan schreit Reinhard an, wegen der offenen Rechnungen für den neuen Film und weil sich keiner um die Finanzen kümmert. Reinhard schießt ein Loch in die Buche. „Es mußte sein.“ Stefan sieht hindurch und sieht Helga. Auch ein unglückliches Paar. „Es lebe die Poesie“, sagt Helga. Fünf Minuten Western mit Frauen. Meine Lieblingsstelle. 90 Minuten später kommt Ansgar um. Der erste Tote.

Evelyne

Weiche, Wotan, weiche. Evelyne singt Wagner. Ihr klares Gesicht entstellt sich zur Fratze, der Gesang trifft mitten ins Herz. Evelyne und Ansgar: die schönste Liebesgeschichte der „Zweiten Heimat“. Der Mezzosopran von Gisela Müller: große Oper, drei Töne genügen. Der Rest ist Singspiel dagegen. Evelyne, die Autodidaktin, gerät zufällig in den Freundeskreis, stellt sich ans Klavier, wo die andern dadaistische Wortspiele improvisieren, und erhebt ihre Stimme. Der tiefe Klang füllt den Raum, unvermittelt, unbedingt. Ich steh' hier und singe. Ein Übermaß an Gegenwart. Vielleicht ist das Jugend: die Stimme von Gisela Müller. Für Edgar Reitz spielt sie nur eine Nebenrolle. Christiane Peitz

1. Teil am Freitag, 20.15 Uhr.