Man tritt die Würde von Menschen mit Füßen

■ Ostdeutsche Stahlkocher verkünden in Rheinhausen das Ende ihrer Duldsamkeit/ Schmerzgrenze“ erreicht/ Ost-West-Sprachlosigkeit überwinden

Rheinhausen (taz) – Die erste Vorstellungsrunde über den dramatischen Arbeitsplatzabbau in Eisenhüttenstadt, Oranienburg, Hennigsdorf, Gröditz und Eisenach ist gerade vorbei, da bricht es aus Gerd Horn, Betriebsrat im Kaltwalzwerk Oranienburg, heraus: „Wir sprechen zuwenig darüber, wie es drinnen aussieht – in den Herzen der Menschen. Als die Schandmauer fiel, haben sich die Menschen aus Ost und West in den Armen gelegen und Sekt getrunken. Wir wollten die Einheit, waren voller Hoffnung und haben den Versprechungen geglaubt.“

Diese Gläubigkeit, diese Vertrauensseligkeit bleibt für Irmgard Chlebick nach wie vor rätselhaft. Die Rentnerin, die 33 Jahre bei Krupp in Rheinhausen gearbeitet hat, davon ein paar Jahre als Betriebsrätin, formuliert ihr Erstaunen ganz vorsichtig: „Ich habe mich manchmal gewundert über den Optimismus, der von drüben rüberschlug. Habt ihr kein Fernsehen geguckt?“ Die Trübung des Blickes im ersten Vereinigungsrausch kann Irmgard Chlebick dabei noch nachvollziehen, die dann folgende Duldsamkeit aber schon weniger. Gerd Horn beschreibt die fatale Selbsttäuschung so: „Viele haben gesagt und geschrieben, es würde schnell besser werden. Der Kanzler hat es gesagt, und wir waren ja gewohnt, Vorgekautes zu schlucken. Ihr kennt dieses Spiel seit Jahren, wir mußten es erst kennen lernen.“ Auch für Günter Reski, Betriebsratsvorsitzender von EKO-Stahl in Eisenhüttenstadt, erklärt sich die lange Ruhe im Osten aus der Unerfahrenheit der betrieblichen und gewerkschaftlichen Akteure, denen man immer wieder „Einsicht, Verständnis und Rücksicht“ abverlangt habe. Für Reski „ist das Maß jetzt aber voll. Wir werden bei Eko- Stahl jetzt nicht mehr nachlassen. Wenn die Revolution kommt, dann beginnt sie in Eisenhüttenstadt.“ Daß das Ende der Leidensfähigkeit erreicht ist, glaubt auch Gerd Horn: „Wer meint, daß die Menschen im Osten weiterhin ruhig bleiben, der irrt sich gewaltig. Wir werden deutlich machen, daß unsere Schmerzgrenze erreicht ist. Man tritt die Würde der Menschen mit Füßen.“

Die ostdeutschen Stahlwerker, die am Montag abend zur Bürgerversammlung in die Krupp-Kantine nach Rheinhausen gekommen sind, „um miteinander ins Gespräch zu kommen und Vorurteile abzubauen“, werten die große Beteiligung an den Warnstreiks der IG Metall als hoffnungsvolles Zeichen für ein erstarktes Selbstbewußtsein der ostdeutschen Arbeitnehmer insgesamt. Sie wollen mit ihrer Präsenz in Rheinhausen auch ein Zeichen gegen Kanzler Kohl setzen, der es als „inakzeptabel“ bezeichnet hatte, daß die Rheinhausener um ihre Arbeitsplätze angesichts der viel größeren Arbeitsplatzverluste im Osten „ein solches Geschrei“ entfachten. Nun, die angereisten ostdeutschen Stahlwerker sahen das genau anders herum. Inakzeptabel sei allein des Kanzlers Versuch, die um ihre Arbeitsplätze kämpfenden Menschen in Ost und West zu spalten. Uwe Jahn, aus dem sächsischen Gröditz angereist, hatte diese Empfehlung für Kohl parat: „Der Kanzler sollte fasten, bis es ihn nicht mehr gibt.“

Bei den knapp 300 TeilnehmerInnen reifte der Wunsch, mehr von einander zu erfahren. Die Berichte, so Diskussionsleiter Jürgen Selle, „haben gezeigt, wie wenig wir von euch wissen. Lesen reicht nicht, hören ist gut, aber reicht auch nicht, man muß es sehen.“ Für Ende April wurde noch am Montag abend ein fünftägiger Besuch in Eisenhüttenstadt vereinbart. Man wolle, so der Sprecher des Bürgerkomitees, Pfarrer Dieter Kelp, „Nähe leben, denn Einheit funktioniert nur, wenn sich die Menschen kennen, wenn sie von einander wissen, um ihre konkreten Hoffnungen und Schicksale“. Daß anschließend die Eisenhüttenstädter nach Rheinhausen kommen, gilt als ausgemacht. Welche Reichtümer der kapitalistische Westen für ArbeiterInnen nach einem langen Arbeitsleben bietet, können die Besucher dann von Irmgard Chlebick auch persönlich erfahren. Nach 33 Arbeitsjahren muß sie mit 1.240 Mark Rente auskommen. Walter Jakobs