In Sachsen stehen die Zeichen auf Streik

Eskalation im Metall-Tarifkonflikt nach Ablehnung eines Kompromißangebots durch die Arbeitgeber/ Metall-Arbeitgeberchef Sachsens zurückgetreten/ Urabstimmung wird vorbereitet  ■ Von Martin Kempe

Berlin (taz) – Der Arbeitskonflikt in der ostdeutschen Metallindustrie hat sein erstes Opfer. Erwin Hein, Geschäftsführer der Dresdner Elbe Flugzeugwerke, ist gestern von seinem Posten als Vorstandsvorsitzender des Verbandes der Sächsischen Metall- und Elektroindustrie zurückgetreten. Hein ist offensichtlich an seiner naiven Vorstellung gescheitert, es sei auch im Interesse des Arbeitgeberlagers, einen Ausweg aus der drohenden Konfrontation der Tarifparteien in Ostdeutschland zu suchen. Die von ihm und dem sächsischen IG-Metall-Bezirksleiter Hasso Düwel am Wochenende in der Privatwohnung des sächsischen Ministerpräsidenten Kurt Biedenkopf ausgehandelte Kompromißformel im Konflikt um die Lohnangleichung in der ostdeutschen Metallindustrie aber wurde schon am Montag abend vom Vorstand der Arbeitgebervereinigung vom Tisch gefegt.

Während IG-Metall-Chef Steinkühler noch am Montag nachmittag das Einverständnis der IG-Metall-Spitze mit der Dresdner Kompromißformel signalisierte, hat die Kölner Zentrale von Gesamtmetall massiv dagegen interveniert. Der Hauptgeschäftsführer des Arbeitgeberverbandes, Kirchner: „Der Kompromiß gibt die Meinung der Arbeitgeber in Sachsen und auch anderswo nicht wieder.“

Der laut Tarifvertrag zum 1. April anstehende Lohnsprung von 71 auf 82 Prozent des Westniveaus, der nach Berechnungen der Arbeitgeber insgesamt eine Erhöhung der Löhne und Gehälter um 26 Prozent bedeutet, sei für die Unternehmen nicht verkraftbar. Eine Streckung der letzten 1994 anstehenden Stufe der Lohnangleichung, wie im Dresdner Kompromiß vorgeschlagen, komme „für viele Unternehmen zu spät“.

Das Scheitern des Vermittlungsversuchs wird die Eskalation zum Arbeitskampf beschleunigen. Ursprünglich wollte sich die IG Metall mit der Entscheidung über die Urabstimmung noch bis zur zweiten Monatshälfte Zeit lassen, um Raum für eine Verhandlungslösung zu lassen. Die Urabstimmung hätte dann Ende April stattgefunden. Um den ersten Mai herum hätte dann der Arbeitskampf begonnen werden können. Immerhin wären damit noch drei Wochen für Vermittlungsversuche geblieben. Diese Hoffnung hat sich nun früher erledigt als ursprünglich angenommen.

Der IG-Metall-Vorstand hat sich gestern und heute zu einer Klausurtagung ins Schloßhotel Monrepot nach Ludwigsburg zurückgezogen, um die Situation im ostdeutschen Arbeitskonflikt zu beraten. Er wird voraussichtlich seine Zustimmung zum sächsischen Antrag nach der Urabstimmung geben. Damit kann die Abstimmung unter den IG-Metall- Mitgliedern in den sächsischen Metallbetrieben schon in der Woche nach Ostern stattfinden. Der Streik könnte damit schon in der vorletzten Aprilwoche beginnen.

In Frankfurter Gewerkschaftskreisen ist man nicht unbedingt glücklich über die unverhoffte Beschleunigung des Konflikts. Denn abgesehen von der generellen Priorität für Verhandlungslösungen: die Optionen der IG Metall für den Arbeitskampf sind durch die Entwicklung in Sachsen eingeengt worden. So hat die Gewerkschaft kaum noch die Entscheidungsfreiheit darüber, in welchem Tarifbezirk sie den Arbeitskampf – stellvertretend für alle übrigen östlichen Tarifbezirke – austragen will. Sie muß sich wohl oder übel für Sachsen entscheiden, obwohl die taktischen Bedingungen hier nach Einschätzung von Beobachtern ungünstiger sind als etwa im Tarifgebiet Mecklenburg-Vorpommern.

In Sachsen dominiert die krisengeschüttelte Maschinenbauindustrie mit vielen noch nicht privatisierten mittelständischen Treuhandbetrieben. Die Angst um den Arbeitsplatz ist hier wesentlich größer und begründeter als auf den großen Ostseewerften, die sich inzwischen weitgehend im Besitz westdeutscher Konzerne befinden, gut mit Aufträgen ausgelastet sind, aber bei streikbedingtem Lieferverzug mit hohen Konventionalstrafen rechnen müssen. Zudem wäre ein Streik mit 20.000 beteiligten norddeutschen Mitgliedern für die Gewerkschaft aller Voraussicht nach kostengünstiger als in Sachsen mit rund 60.000 Mitgliedern.

Wie auch immer – in der Frankfurter IG-Metall-Zentrale wird beteuert, die Streikkasse sei ungeachtet aller sonstigen finanziellen Engpässe der Gewerkschaft gut gefüllt und die hohe Beteiligung an den Warnstreiks Anfang April habe die hohe Mobilisierungsbereitschaft der ostdeutschen Metaller gezeigt. „Wir können, wenn es denn sein muß, mit Optimismus in diesen Arbeitskampf gehen“, heißt es. Zum Optimismus trägt bei, daß die schärfste Waffe der Arbeitgeber, der Paragraph 116 des Arbeitsförderungsgesetzes, in diesem Fall stumpf ist.

Der nach dem großen Streik von 1984 von der konservativen Bundesregierung novellierte Paragraph sieht vor, daß mittelbar, etwa durch Lieferausfälle, vom Streik betroffene Beschäftigte in anderen Tarifgebieten bei Produktionsstillstand keine Lohnersatzleistungen vom Arbeitsamt erhalten können.

Auf diese Weise können Arbeitgeber Belegschaften außerhalb des unmittelbar bestreikten Tarifgebiets ohne Lohn- oder Lohnersatzzahlungen „kalt aussperren“. Weil die Lieferbeziehungen zwischen den ostdeutschen Betrieben noch relativ unentwickelt sind, wird ihnen das Instrument der „kalten Aussperrung“ kaum zur Verfügung stehen.

Gibt es noch eine Chance zum Kompromiß vor Beginn des Streiks? Beobachter sehen die einzige verbleibende Chance darin, daß sich die regionalen ostdeutschen Arbeitgebervertreter aus der Konfliktstrategie der Kölner Arbeitgeberzentrale lösen und auf eigene Faust mit der Gewerkschaft verhandeln.

Schon bei der Kündigung der Stahltarife war zwischen ostdeutschen Arbeitgebervertretern und den Kölner Funktionären ein Riß offensichtlich geworden, dem nun der sächsische Verbandsvorsitzende Erwin Hein zum Opfer gefallen ist. Und der Ehrenvorsitzende des Metallarbeitgeber-Verbandes Mecklenburg-Vorpommern, Erwin Müller, hält sich zwar in seiner Verbandsfunktion an die Arbeitgeberlinie. Aber in seiner Werft, der MTW-Meerestechnik in Wismar, zahlt er, was der Tarif verlangt.