Kaum waren am Freitag die niederschmetternden Ergebnisse der Concorde-Studie über die mangelnde Wirksamkeit des Aids-Medikaments AZT bekannt geworden, monierten Kritiker Methodik und Auswertung des Projekts. Von Manfred Kriener

Dosiertes Mißtrauen in einen Hoffnungsträger

Am schnellsten reagierte die Börse. Als die niederschmetternden Ergebnisse der britisch-französischen Concorde-Studie über das Aids-Medikament AZT (Handelsname „Retrovir“) am letzten Freitag bekannt wurden, stürzte der Aktienkurs des Herstellers Wellcome um zehn Prozent in den Keller. In ersten Hochrechnungen wurden sofort die Absatzeinbußen hochgerechnet. Statt 670 Millionen Pfund werde Wellcome im Jahr 1996 nur noch 460 Millionen Pfund durch den Verkauf von Azidothymidin (AZT) einnehmen. Eine „bittere Pille“, so der Observer, für ein Unternehmen, das bereits für 1.025 Milliarden Pfund AZT verkauft hat.

Hinter den nüchternen Finanzzahlen steht sehr viel Wichtigeres: Die „zerstörten Hoffnungen von Millionen von HIV-Infizierten“, so die ersten Kommentare hierzulande. Tenor: die Studie habe gezeigt, daß AZT den Ausbruch von Aids nicht verhindern kann. Das Medikament ist als Prophylaxe in den Frühstadien der Infektion unwirksam und untauglich.

Sehr viel gelassener reagierten Behandler und Forscher auf die Veröffentlichung. Jürgen Poppinger, der in der Münchner HIV- Schwerpunkt-Praxis bei Hans Jäger arbeitet, sieht sogar „kaum Veränderungen“ für die Behandlung von Infizierten und Kranken. Auch Stephan Dressler vom Deutschen Aids-Zentrum ist „nicht überrascht“.

Was haben die Aids-Forscher mit ihrer Concorde-Studie nun tatsächlich herausgefunden? Von 1988 bis Oktober 1991 hatten sie drei Jahre lang 1.749 HIV-Infizierte in einer Doppelblind-Studie beobachtet. Die eine Hälfte der Patienten bekam AZT, die andere (ohne ihr Wissen) ein Placebo und erst beim Auftreten erster Aids- Symptome ebenfalls AZT. Nach drei Jahren waren in beiden Gruppen 18 Prozent der Patienten an Aids erkrankt. Die AZT-Probanden hatten zwar eine höhere Zahl an T-Helferzellen, aber genauso viele entwickelten das Vollbild der Krankheit. Fazit für die Forscher: Die Studie hat „keinen signifikanten Nutzen einer frühen AZT-Behandlung“ gezeigt.

In den USA waren bislang vier Studien zur selben Fragestellung vorgelegt worden. Dreimal konnten die Vorteile einer frühen AZT- Behandlung signifikant gezeigt werden. Seitdem galt AZT als Hoffnungsträger auch für Patienten ohne aidstypische Symptome und wurde von vielen Patienten frühzeitig eingenommen – manchmal schon bei einem Absinken der Helferzellenzahl unter 500. Bei bereits erkrankten Infizierten mit Aids-Symptomen ist die positive Wirkung des Virushemmers AZT ohnehin wissenschaftlich unbestritten. Aber kann es auch quasi „prophylaktisch“ eingesetzt werden?

In den US-Studien war der Beobachtungszeitraum relativ kurz gewesen: nur ein oder zwei Jahre. Die Concorde-Studie lief dagegen über eine lange Zeit und hat deshalb mehr Gewicht. Dennoch ist die Methodik und Auswertung dieses Mammutprojekts umstritten. Insider kritisieren einen veralteten Forschungsansatz, der so in den USA niemals möglich gewesen wäre: „Die hätten denen die Scheiben eingeworfen.“ Die wichtigsten Kritikpunkte:

– Die Patienten mit AZT erhielten täglich 1.000 Milligramm. Diese Dosis gilt inzwischen als weit überhöht und gefährlich. Heute werden nur noch 500 Milligramm verabreicht.

– Das Medikament wurde in der AZT-Gruppe drei Jahre lang durchgängig gegeben – eine veraltete Therapiemethode. Wegen der Resistenzbildungen und zur besseren Verträglichkeit wird AZT heute meist mit den beiden anderen Aids-Mitteln DDI und DDC kombiniert oder immer wieder abgesetzt.

– Die Studie ist im strengen Sinne nicht „doppelt blind“ durchgeführt worden. Die Patienten konnten auf ihrem regelmäßig ermittelten Blutbild (HIV-Infizierte gelten als sehr gut informiert) und anhand ihrer körperlichen Symptome leicht erkennen, ob sie AZT oder Placebo bekommen. Daher sei nicht auszuschließen, so ein mit der Studie vertrauter Arzt, daß die Placebos dann doch „heimlich AZT abgebissen haben“. Zumal sie aus den US-Veröffentlichungen ständig von den Vorteilen des Medikaments lesen konnten.

– Das Studiendesign war so angelegt, daß ein Patient bei deutlichen körperlichen Symptomen aus der Placebogruppe herausgenommen wurde und AZT bekam. Dadurch wird die Studie in ihren Ergebnissen verzerrt. In den HIV-Praxen gilt bereits ein steiler Helferzellenabfall ohne klinische Symptome als AZT-Indikation.

Einig sind sich allerdings auch die Kritiker, daß Concorde „kein schönes Ergebnis“ gebracht hat, so Jürgen Poppinger. Für die Behandlung seiner Patienten sieht er dennoch nur geringe Auswirkungen, weil „die klinische Wirklichkeit längst über die akademische Fragestellung der Studie hinweggerollt ist“. In den ärztlichen Praxen habe es schon bisher keine festen Empfehlungen für den AZT- Einsatz gegeben – über dessen Zeitpunkt im übrigen jeder Patient selbst entscheiden müsse. Maximal zehn Prozent der Patienten hätten sich in seiner Praxis für eine frühe AZT-Einnahme bei einem Absinken der Helferzellen unter 500 entschieden. Hier werde es vielleicht einige Korrekturen geben.

Daß die Patienten das Medikament in der Regel lieber später als früher nehmen, hat allerdings vorwiegend psychologische Gründe. Der Beginn der AZT-Therapie bedeutet für viele das Eingeständnis, daß die symptomfreie Zeit endgültig vorbei ist und sie jetzt definitiv an der HIV-Infektion erkrankt sind. Aber nicht nur auf die Patienten, die den Zeitpunkt des AZT- Einsatzes möglicherweise verschieben, vor allem auf die Forschung dürfte die Concorde-Studie einen nicht unerheblichen Einfluß haben. Stephan Dressler prophezeit einen Trend zu Studien mit einer längeren Beobachtungszeit, um aussagekräftigere Ergebnisse zu erhalten. Das bedeute aber auch, daß neue Medikamente erst später zugelassen werden.