Hauptstadtmusik
: Spare Geld und bilde Profil

■ Liebe und Tod pur: Bellinis „I Capuleti e i Montecchini“ in der Lindenoper

Dem Musikkritiker, Sparte Oper, geht es mit der Hauptstadt wie dem Herkules mit der Hydra. Es gibt zuviel zu tun. Zwar hat die Bestie nicht neun, sondern bloß drei Köpfe, aber sie ist ständig in Bewegung. Kaum hat man ihr beherzt einen Kopf abgeschlagen, wächst schon woanders der nächste wieder nach. Die Kritiker schimpfen und schwitzen. Sie rennen von Produktion zu Produktion und kommen nicht mehr richtig hinterher. Manch einer ist schon so erledigt, daß er blindwütig alles niedermacht. Andere haben vor dem Monster bereits kapituliert und opfern nur noch Weihrauch.

Den Leuten allerdings, die zum Spaß in die Oper gehen, bringt der Standort Vorteile. Sie haben zum Beispiel augenblicklich freie Auswahl zwischen zwei Aidas, zweieinhalb Carmens und drei Zauberflöten, auch Giselle gibt es doppelt und den Schwanensee demnächst wieder dreifach. Allein dafür hätte man zwar die Mauer nicht schleifen müssen – was ehernes Repertoire ist, das gab es auch früher schon mindestens zwiefach zu sehen, wenigstens für Westbürger mit Visa und Valuta.

Neu dagegen und ziemlich verwirrend ist, daß jetzt echte Konkurrenz und Leben in die Buden gekommen ist. Und, daß jeder Hydrakopf sich seine eigenen Gedanken ums Fortkommen macht, wobei, um im antiken Bilde zu bleiben, jeder Kopf alleine gucken muß, wie er durchkommt zwischen Skylla und Charybdis: konventionelles Repertoire macht das Haus zwar voll, doch das Profil wird mies.

Raritäten sind zwar gut für den Ruf, aber schlecht für die Kasse. Schließlich gucken auch Opernfreunde und Opernkritiker insgeheim am liebsten doch immer das, was sie schon kennen.

Die Lindenoper hat bekanntlich einen naßforschen Jung-Intendanten, der neuerdings nur noch den Pluralis majestatis benutzt und unbeirrt meint, es müsse doch irgendwie beides gehen: Kasse machen und die Welt neu erfinden. Spare Geld und bilde Profil.

Dazu soll erstens das vielbekrähte „Stagione“-Prinzip helfen und zweitens die Zauberformel „Co-op“. Augenblicklich spielt die Lindenoper „stagionemäßig“ und „co-produziert“, aber natürlich keineswegs „en suite“: „I Capuleti e i Montecchi“ von dem genialen und hierzulande leider immer noch verkannten Maestro Vincenzo Bellini.

Für die Souffleuse, für zwei Solisten, für den Chor und die Choreographie einer recht abscheulichen kleinen Balletteinlage zeichnet die Lindenoper selbst verantwortlich. Alles andere wurde geliefert von der Lyric Opera of Chicago, wo ja Barenboim noch sein zweites Bein als Orchesterchef hat.

Am Dirigentenpult aber stand für diesmal der kleine kernige Italoamerikaner Antonio Pappano (ausgeborgt vom Brüsseler ThéÛtre de la Monnaie) – der, o Wunder, der Berliner Staatskapelle wirklich beigebracht hat, wie man Bellini spielt.

Gleich die Ouvertüre beispielsweise, die mit gemeinen leisen Trommelwirbeln anfängt und dann rasch zu ordinärem Tschingderassa aufmarschiert, wie eine italienische Banda auf dem Marktplatz. Dabei darf man noch rascheln, flüstern, kichern, im Täschchen kramen und Operngucker sowie Bonbons und Taschentuch auf der Brüstung ausbreiten. Das dauert nämlich.

Auch der Maestro kramt herum und lächelt milde. Auch die Musik dauert. Aber dann knallt er plötzlich mit der Peitsche, nimmt seine Jungs bei den Ohren, und ab geht die Post. Schlag auf Schlag ist Schluß. Applaus. Pause. Alle sind angekommen und mucksmäuschenstill. Die Oper kann anfangen.

Jetzt ist die Zeit reif für Bellinis süßen Wahnsinn: für diese verlängerten Pausen; für die ewigen Wiederholungen, die alles zweimal zweimal sagen, weil es so wunderwunderschön war; für die niemals endenden Melodiebögen, wie sie einer über den anderen steigen in den Arien, immer höher und immer weiter, derweil das Orchester unten zurückbleibt, sanft vor sich hin harfend. Irgendwann hört das Orchester immer auf, und die Stimme schwebt alleine weiter. Manchmal hält sie dann inne und wird getragen nur noch von Illusion. Am allerschönsten ist das natürlich, wenn zwei Stimmen diesen Zaubertrick vorführen. Zwei Soprane gemeinsam auf den Schwingen zärtlich verzögerter Terzgänge. Das ist das Duett der Liebenden: Romeo und Julia.

Davon handelt diese Oper: Liebe und Tod pur. Man braucht dazu nur einen Bellini-Dirigenten wie Pappano und ein Taschentuch. Außerdem braucht man natürlich dazu noch die Callas, Sutherland, Baker, Sills oder wenigstens Freni. Tja. Damit konnte die Lindenoper nun leider nicht aufwarten. Aber immerhin: die Damen (Cuberli und Vermillion) haben achtbar sauber gesungen. Und, was ich noch wichtiger finde: man hat mit dieser italoamerikanischen Inszenierung, die zwar ziemlich kuschelig-verplüscht geraten ist, aber doch immerhin eine veritable dramatisch- szenische Fassung, auch hierzulande bewiesen, daß Vincenzo Bellini komplette Opern komponiert hat – so wie Verdi und Donizetti auch. Und nicht, wie man sonst immer meint, nur ein Fuder schöner Konzertarien. Eleonore Büning