St. Pauli läßt sich nicht unterkriegen

Die Probleme der Hanseaten, Nazis, Spekulanten und Sozialdemokraten mit  ■ Hamburgs einzigem Weltstadtviertel

. Von Florian Marten*

St. Pauli ist wieder in. Der von Bomben, Legoarchitekten, Verkehrslawinen, Spekulanten, Touristen und nostalgischer Verklärung malträtierte Stadtteil ist attraktiv wie nie. Der FC St. Pauli, eine neuerwachte Künstlerszene, Kneipen, die Wallfahrtstätte Hafenstraße und die ungebrochene Kieztradition bilden eine Mischung, die Hamburgs Kleinbürger ebenso fasziniert wie neue Spekulanten und Marketingstrategen.

Lange Jahre hat sich die Stadtpolitik allenfalls an die Ränder von St. Pauli herangetraut. Mit dem Bau der Hafenrandstraße wurde der Fischmarkt zerstört und vom Wasser abgeschnitten, mit einer Vielzahl von Sanierungsgebieten die aseptische Norm neuzeitlicher Dreieinhalbzimmer-Sozialwohnungen für die aussterbende Gattung der Facharbeiterfamilie eingeführt.

Jetzt erst legt der Senat so richtig los. Ein Büroklotz am Millerntor, Sozialwohnungsbau in der Hafenstraße, eine Glitzermeile entlang der Elbe und konzentrierte Sanierungsarbeit vom Karoviertel bis zur Reeperbahn sollen den Stadtteil domestizieren. Nicht wenige befürchten, Bürospekulation, Schickimickisierung und die Sanierungspolitik würden dem echten St. Pauli endgültig den Garaus machen. Optimisten halten dagegen, das Hafenviertel sei schon mit ganz anderen Herausforderungen fertig geworden.

1933, nach ihrer Machtübernahme, begannen die Nationalsozialisten unverzüglich mit der Zerschlagung der ihnen gefährlichen Milieus, allen voran St. Paulis. Der gesamte Stadtteil wurde zum Sanierungsgebiet erklärt. Erstes Ziel war, die linke Hochburg Karolinenviertel zu schleifen. Parallel dazu entwarfen die Nazis ein Konzept für eine monströse Fassade am Elbufer — Hamburg als nationalsozialistisches Tor zur Welt. Eine große Querachse von der City nach Altona sollte den Sumpf trockenlegen.

Über den vorbereitenden Grunderwerb kam das NS-Stadtregime aber nicht hinaus. Pikant: Damals kauften die Nazis auch die Häuser an der Hafenstraße.

Die Wiederaufbaugeneration der 50er Jahre griff die Nazi-Pläne auf. Dezenter, plattenbaumäßiger und unter anderen politischen Vorzeichen, versteht sich. Die Reste der Altbausubstanz sollten abgerissen, St. Pauli zu einer aufgeräumten, autogerechten Wolkenkratzerstadt werden: Entlang der NS-Achsen sollte ein Viertel für Wohnen und Verwalten, bis zu 20 Stockwerke hoch, das Schmuddelviertel unter sich begraben. Verwirklicht wurden, typisch für die Hamburger Stadtpolitik der Nachkriegszeit, nur Bruchstücke.

„Die SPD reißt gerne ab“

Heute unternimmt Hamburgs SPD mit dem Sozialwohnungsbau in der von den Nazis verstaatlichten Häuserzeile am Hafenrand erneut einen Versuch, in St. Pauli aufzuräumen. Sozis sind keine Nazis. In St. Pauli boten sie einst Schulter an Schulter mit Kommunisten den braunen Bürgerkriegsbanden die Stirn. Was aber treibt sie dann, heute gerade hier städtebauliches DDT zu versprühen?

Peter Illies, selbstkritischer Stadtplanungschef im Bezirksamt Mitte: „Die SPD reißt gerne ab, um ihrer Vergangenheit zu entfliehen. Sie kam aus den Hinterhäusern und will in die Vorderhäuser.“ Der groteske Haß auf die Hafenstraße und die Nacht-und-Nebel- Aktion mit dem Teilabriß der kleinen alten Arbeiterhäuser in der Wohlwillstraße sind ihm dafür ebenso Beleg wie der (unbewußte?) Versuch, mit sauberem Sozialwohnungsbau Armut und Polit-Szene aus dem Viertel zu verdrängen.

Gerade in St. Pauli drängten sich zur Geburtszeit der Sozialdemokratie die armen Arbeiterfamilien in den Hinterhöfen und Terrassen. Aufstiegs- und Überlebenswille drängten raus, SPD-Bau- und -Wohnungspolitik ist seither der Versuch, solche Zustände unmöglich zu machen.

Ist es ein Zufall, daß Bürgermeister Voscherau, ein typischer Vertreter der verbissenen Wandsbeker Angestellten-SPD, sich die Hafenstraße als Feindbild auserkor? Ist es ein Zufall, daß der Großbürger Klaus von Dohnanyi ein Gentlemen-Agreement mit den Hafenstraßen-Bewohnern schloß, eine Dialogform, die diese sofort verstanden? Ist es Zufall, daß Bausenator Wagner, in der eigenen Partei oft als der letzte Prolet verehrt, die traditionsreichen Arbeiterquartiere in der Wohlwillstraße abreißen lassen wollte und erst in letzter Sekunde von dem freidemokratischen Bildungsbürger und damaligen Kultursenator Ingo von Münch aufgehalten werden konnte?

Das Nicht-Verhältnis Hamburgs zu St. Pauli hat Tradition. 1625 erhob die Kaufmannsstadt das dünn besiedelte Niemandsland zwischen Hamburg und Altona zur Vorstadt und zeigte sich gleich spendierfreudig: Der neue Stadtteil bekam den Müllplatz, ein Pestkrankenhaus samt Pestfriedhof, Obdachlosenhütten, eine stinkende Trankocherei, eine Hinrichtungsstätte, den Schlachthof und die Reeperbahn für die Fabrikation von Schiffstauen.

Mit Festungswall und Schußfläche für die Kanonen hielt das Hamburger Bürgertum den Dreck auf Distanz. Auch als sich später Buden und Vergnügungsgewerbe breit machten, hatte die Stadt ihre stille distanzierte Freude. Erst während der Industrialisierung wurde St. Pauli richtig eingemeindet. Torsperre und Wallmauern fielen — die Distanz blieb.

Zur Hochzeit der Industrialisierung sahen sich die Hamburger Großbürger gezwungen, die schmutzige Vorstadt enger ans Herz zu drücken. Den Nazis war sie beim Übergang zur modernen Industrie politisch und sozial verdächtig, den Sozis der Nachkriegszeit galt sie als krank, einer dringenden Sozialtherapie bedürftig.

Geballter Sachverstand im Viertel

Dennoch: St. Pauli, in den 60er und 70er Jahren scheinbar kurz vor dem Niedergang, bewies ein zähes Leben. Der Gegenentwurf zum tristen Angestelltenideal der Wirtschaftswunderjahre ist das Geheimnis des heutigen St. Paulis. Schon die kleine Atempause, die die gewalttätige Stadtpolitik dem Stadtteil in den letzten Jahren gewährte, reichte aus, den widerborstigen Kadaver zu beleben.

Mißtrauen gegen die Mächtigen, gegen das Hamburger Establishment und eine eigene Politkultur — das hat sich St. Pauli in Jahrhunderten schwer erarbeitet. Die klugen Kids der Hafenstraße verhinderten bis heute die Zerstörung des individuellen Gesichtes des Hafenrands. Die Schanzenkrieger stoppten den Unsinn eines Musical-Theaters am Schulterblatt. Willy Bartels verhinderte eine High-Tech-Disco im Zillertal und ließ St. Paulis unverwechselbares Eigengewächs Corny Littmann zum Hamburger Marketingartikel Nummer 1 aufsteigen. Der geballte Sachverstand des Karoviertel beschleunigte die Beerdigung des aberwitzigen Sport-Dome-Projektes. Die AnwohnerInnen der Stresemannstraße erzwangen ein Überdenken der Verkehrspolitik. Stadtplaner Peter Illies trocken: „Der Sachverstand in St. Pauli ist in vielen Punkten dem der Stadt überlegen. Er wird aber nicht genutzt.“

*Ein ausführlicher Beitrag von Florian Marten zu St. Pauli findet sich im Hamburger Architekten Jahrbuch 1993 (Junius Verlag), das in Kürze erscheint.