Eine große Familie

Die 23. Freie Berliner Kunstausstellung  ■ Von Andreas Seltzer

Ach ja, die FBK: wie war es dort in den Genossen- und Kollegenzeiten? Als Kollege Masuhr für den Ernteeinsatz in Nicaragua und auf Cuba warb? Als die Kollegin Sieveking uns die besseren Menschen nahebrachte, die Timner- und die Sitte-Leute, die bei den 1.-Mai-Demos auf dem Alexanderplatz vor dem Flug der Friedenstauben in Verzückung gerieten und Hermann Axen, dieser Lichtgestalt des Politbüros, applaudierten? Hermann, der Erlöser! Als Kollege Pius Müller, der Kämpfer mit Pinsel und Palette, zeigte, daß es auch in Westberlin noch Inseln des Guten gibt: die Bezirksbüros der SEW und die Behausungen mit den Flokati-Teppichen und den Ikea-Möbeln, auf denen die Wahrheit und die blauen Bände der MEW-Gesamtausgabe lagen? Als die Rote Nelke, das Künstlerkollektiv, hundertfach die Masken des Monopolkapitals entlarvte, und Petrick, Diehl, Sorge und Vogelsang akribisch Buch führten über Schmutz, Elend und Verderbtheit dieser Welt?

Nicht zu übersehen war es: dort pochte das Gewissen, und wenn die Kunst, wie es die Floskel sagt, ein seismographisches System ist, dann war jeder engagierte Künstler sein eigener Erdbebenwart. Für junge Westberliner Künstler war es nämlich eine fast selbstverständliche demokratische Pflicht, die FBK nicht gering zu schätzen. Genauso selbstverständlich wie das Kollegentum im Berufsverband und die Mitgliedschaft in einer Arbeitsgruppe der Neuen Gesellschaft für Bildende Kunst.

Die FBK, Nachfolgerin der Juryfreien und der Großen Berliner Kunstausstellung, war für lange Zeit Resonanzboden der Ansicht, daß Kunst eigentlich nichts weiter ist als eine Sonderform der Sozialpädagogik. Und außerdem: hatte nicht auch damals der berühmte Maler Immendorf in seiner Agitprop-Periode an die Kollegen appelliert, daß die Künstler dem Volk entgegenkommen sollten? Doch wie war dies Entgegenkommen gemeint? Zu Siemens und zu Osram gehen und Arbeit an der Basis machen? Dem Roten Morgen Fotos vom letzten Polizeieinsatz liefern? Hausfassaden bemalen wie die Ratgeb-Gruppe oder Kinderbücher entwickeln gegen das Ausbeutersystem? Oder sollte man gleich Mitglied im nächsten SPD-Ortsverband werden, Straßenfeste organisieren und „Kultur für alle“ fordern? Ein Künstler – was ist das eigentlich? Ist er, wie der Kunstverein in Hamburg 1979 mit einer Ausstellung mal fragte, ein Eremit, ein Forscher oder ein Sozialarbeiter? Von allem ein bißchen oder etwas ganz anderes? Die Freie Berliner Kunstausstellung schien für einige Zeit nach dem Modell Worpswede gebildet zu sein: die Kunstszene Westberlin, das war ein Kaff, mit Ruckhaberle, dem Kunsthallen- Direktor, als Bürgermeister; mit Wargin, dem Baumpaten, als seinem Stellvertreter und Ohff, dem Redakteur, als Gendarmen, der fürs Einhalten der Bilderordnung sorgte. Und am Sonntagmorgen trafen sich dann alle zum Frühschoppen in den Hallen 6, 8 oder 9, machten Talkshows, die von Lippki, Rhode, Höynck, den Rednern für alle Gelegenheiten, moderiert wurden und hörten dabei den Zickenjazz der Spandau Five.

Es blühte der Berufsverband der bildenden Künstler, überall gab's mit einemmal Künstlerförderungen und Angebote zur Künstlerweiterbildung, das Künstlerhaus Bethanien entstand, und kaum ging irgendwo in den Hinterhöfen ein Kleinbetrieb pleite, schon nahmen die Künstler Witterung auf, um sich einzunisten.

Die hohe Zeit des Künstlerseins begann und die Kunstakademien wurden überrannt von Leuten mit Mappen unterm Arm und entschlossenen Gesichtern, in denen sich der Vorruhm spiegelte. Die Frage, was denn Künstler heute seien – Eremiten, Forscher oder Sozialarbeiter –, kam erst mal zu den Akten, Künstler sind nichts anderes als Künstler, Mitglieder einer Kaste, die sich tagaus, tagein damit beschäftigt, wer von ihnen noch in der Regionalliga spielt, wer den Aufstieg schaffte, wer schon außer Konkurrenz ist, wer gerade die „wichtigen Leute“ sind, die Ausstellungsmacher und die Katalogschreiber und Journalisten, die die begehrten Kommentarpuffer liefern, mit denen man die eigene Arbeit gegen die der anderen zu schützen hofft.

Nun könnte man einwenden, daß diese Nabelschau eine fast schon normale Perspektive ist, weil das Kunstangebot seit langem die Nachfrage übersteigt; daß also jeder professionell arbeitende Künstler bis zu dem Moment, in dem seine Produkte in die Kunstzirkulation gelangt sind, fast gezwungen ist, als sein eigener Unternehmer zu agieren. Und dazu gehört, die Tendenzen und Stimmungen des Marktes stets im Blick zu haben.

Was heißt das für die Freie Berliner Kunstausstellung und die 2.500 Künstler, die in diesem Jahr dort ausstellen? Zuerst einmal: auch sie spiegelt das Grundproblem des Kunstmarkts wider. Das Angebot überwältigt derartig, daß der Besucher leicht das Nachfragen vergißt. Schon nach den ersten fünfzig Bildern ist er halb betäubt, und wie beim Dämmern vor'm TV schaltet die Bildaufnahme seines Hirns auf Durchgangsreiz. Sehen und Vergessen wechseln in immer schnellerer Folge. Nach hundert bis hundertfünfzig Bildern verstärkt sich das Gefühl zunehmender Verblödung, das Sehen bekommt Ähnlichkeit mit Fließband-Aufmerksamkeit, Stück um Stück wird abgehakt, nur weiter, vielleicht findet sich ja doch noch jenes Werk, das man sich insgeheim wünscht, das einen festhält, vor dem man Atem schöpfen kann und das einem die Augen wieder öffnet. Aber das passiert nur selten. Und wenn es geschieht, dann womöglich vor einer Arbeit, die vom allgemeinen Ehrgeiz, es den Großen, Etablierten, gleich- und nachzutun, weit entfernt ist; bei den „Laien“ vielleicht, deren Zahl in diesem Jahr, wie der Kultursenator im Katalogvorwort geschrieben hat, begrenzt wurde. Nach 500 Bildern dann tut der Rücken weh und die Füße schmerzen. Das also sind die Bedingungen, die von den Ausstellern geschaffen wurden, um die FBK-Besucher zum Sehen und Erkennen zu bringen. Gewiß, Erkenntnis ist, sagt man, nicht selten schmerzhaft und mit Unbehagen verbunden. Das zumindest stellt sich rasch ein. Aber was bringt die vielen Kunstambitionierten und Künstler eigentlich dazu, dort immer wieder auszustellen? Geht es um die Hoffnung, daß sich im Lauf der Jahre die Qualitäten eines Künstlers (der mit jeweils einem Werk vertreten ist) dem Gedächtnis der Betrachter schon einprägen werden? Geht es um den Stolz, den eigenen Namen im Katalog zu finden? Geht es um Selbsttherapie, den Mut, eine Arbeit vom Privaten ins Öffentliche zu bringen?

Die Freie Berliner Kunstausstellung, die seit 23 Jahren von den Künstlern selbst organisiert wird, biete, so hieß es 1992 im Grußwort des Kultursenators, „jedem Berliner Künstler einmal im Jahr die Möglichkeit, ein Werk eigener Wahl der Öffentlichkeit zu präsentieren, unabhängig von Juries, Kunstvermittlern und finanziellen Möglichkeiten. Sie ist damit ein Ausdruck der Freiheit der Kunst und ein Grundrecht der Berliner Künstler.“

Man kann froh sein, daß nicht jeder der etwa 5.000 bildenden Künstler in Gesamtberlin sein Grundrecht, auf der FBK auszustellen, wahrnimmt; viele haben nämlich schon längst erkannt, daß die Form der Übersicht, wie sie die FBK anbietet, nicht mehr zeigen kann als Quantität und, bestenfalls, eine Art der Bildstatistik. Kunstwahrnehmung funktioniert nicht wie die Stimmabgabe bei den Wahlen, und die demokratische Möglichkeit, die der Senator preist, besteht leider im Fehlen dessen, was die Einschätzung eines Werkes erst möglich macht: der Vergleich mit anderen Arbeiten des Künstlers etwa und die Kenntnis seiner Arbeitsbiographie.

Daß es mit dem Grundrecht auf Teilnahme an der FBK doch nicht so genau genommen wird, zeigt die Bemerkung des Senators, daß „in diesem Jahr die Zahl der Laien begrenzt worden ist“. Von wem und mit welchen Argumenten? Die FBK ist nur noch Reminiszenz an eine Zeit, in der die Panoramaausstellungen gesellschaftsfähig waren und der Glaube an die Kraft des Originals und Einzelbildes noch nicht erschüttert war. (Dazu paßt, daß der Fotografie, der illegitimen Kunst, dort für lange Zeit Hausverbot erteilt wurde.) Freilich gab es im Lauf der FBK-Ausstellungsgeschichte immer wieder auch Künstler, die da mitmachten, weil sie mit dieser Form der Öffentlichkeit arbeiten wollten; die Werke konzipierten, die sich auf das Anschauen von Kunstobjekten in messeähnlichen Situationen bezogen. Bis auf die Kojen des „Büros für ungewöhnliche Maßnahmen / Laterna Tragica“ und der „Kongreß“-Gruppe fehlt diese Reflexion ansonsten gänzlich. So zeigt jeder das, was zu Hause oder im Atelier entstanden ist, ohne Rücksichten auf die Veränderungen, die ein Werk erfährt, wenn es aus dem heimischen Binnenraum in den Außenraum, den „Marktplatz“, wie ihn der Kultursenator im Katalog von 1992 nannte, überführt wird. Im Katalog von 1993 wird diese Metapher von einer anderen begrenzt: da ist die FBK nicht mehr ein „Marktplatz“, sondern „so etwas wie ein Berliner Familienfest für die Künstlerinnen und Künstler, ihre Verwandten, Freunde, Bekannten und Verehrer.“

Berliner Familienfest – damit kann nur so etwas wie ein Schrebergartentreffen mit Eisbeinessen, Mollen und viel Korn gemeint sein. Und dazu gibt es Kunst wie aus dem Heimwerkermarkt, Borniertheit, die sich naiv gibt und den flotten Mist aus den Kreativworkshops, bei dem das Mißverhältnis zwischen Anspruch und Ausführung seit je zum Würgen reizte. Die Titel der Arbeiten sagen es schon. Zuerst die außerirdischen: „Sphärische Spuren“ (Ute Martrud Allner), „Kosmische Vision“ (Irmi Berlin), „Hoffnung, Bewahrung des Kosmos“ (Gisela Boelicke- Staebel), ob die „Frau mit Gedankenmolekülen“ (Ute Wöllmann) dazu gehört, ist ungewiß. Dann die philosophischen: „Abwärts ist Aufwärts“ (D. Jonas) und die Statements der „Simulacrum“- Koje: „Das Selbst, das sich einbildet, dargestellt werden zu müssen, ist überflüssig“ und „Es gibt kein Außerhalb der Indifferenz“. Irdischer dagegen ist das „Stilleben mit Puddingpulver“ (Hans-Joachim Billib), die Klage „Niemand weiß, was die Erfahrung wert ist“ (Inge Voss) und die sehr bedauerliche Feststellung „Ich kann dich nicht mehr küssen“ (Pietro Battistini). Und dann die kritischen und gut gemeinten: „Gewalt-Gegen-Gewalt“ (Jula Dech), „Toleranz und Idealismus“ (Frank Lohfink), „Warschauer Elegie“ (Reinhard Hoffmann) und „Aufbruch nach Euro-Disney“ (Matthias Koeppel). Mindestens noch tausendmal könnte man so weiterzitieren.

Eines wird beim Lesen und Betrachten der FBK-Werke klar: daß sie so als „Ausdruck der Freiheit von Kunst“ gehegt werden, liegt daran, daß die meisten von ihnen bildgewordene Phrasen sind. Klischees, die die Verbindung zu den leeren Worten der Kulturpolitiker und -bürokraten suchen.

23. Freie Berliner Kunstausstellung, 4.–25. April täglich 10–19 Uhr, Messehallen 9a, b und c, Eingang Messedamm 1, Information: 302 12 93