Zwerge in Betonschluchten

■ „Lärm und Wut“ von Jean-Claude Brisseau

Gropiusstadt, Marzahn oder die Banlieu von Paris sind sich ähnlich. Daß es aus diesen Steinlabyrinthen kaum einen Ausweg gibt, macht schon die erste Einstellung von Jean-Claude Brisseaus „Lärm und Wut“ klar. Einen Zettel in der Hand, auf dem in fetter Linie der Weg von der U-Bahnstation zur Wohnung eingezeichnet ist, versucht der Junge Bruno sich im Betonirrgarten zurechtzufinden. Seine Großmutter, bei der er bisher auf dem Land lebte, ist gestorben, deshalb muß er zu seiner Mutter ziehen. Ein Kanarienvogel im Käfig ist sein einziges Gepäck.

Mutter ist nur auf Merkzetteln präsent, die über dem Tisch in der Eßecke pappen, zu sehen ist sie kein einziges Mal. In seiner Einsamkeit phantasiert sich Bruno eine opernhafte Gegenwalt. Der Vogel wird zum Falken mit großen Schwingen auf dem Arm einer schönen Frau. Langsam freundet sich der introvertierte Bruno mit seinem Klassenkameraden Jean an, einem entwurzelten Brutalo. Die beiden Pole treffen sich zunächst. Als die Lehrerin sich jedoch Brunos annimmt, reagiert Jean mit zerstörerischer Eifersucht. Jeans Vater hat die Familienwohnung zum Schießstand ausgebaut. Auf dem engen Flur ballert er mit seinen Saufkumpanen auf Pappkameraden und Trockenhauben.

Brisseau beutet diese erbarmungslose Welt nicht aus. Seine Bilder flüchten sich weder in verständnisheischende Sozialarbeiterei, noch in ästhetisch aufgemotzte Blutrünstigkeit.

Wie Zwerge wirken die Menschen in den immer wieder von oben fotografierten Betonschluchten und wie Riesen in den Schuhschachteln, die ihr Zuhause sein sollen. Wie Leos Carax in „Les amants du Ponte-Neuf“ verbindet Brisseau Hyperrealismus mit phantastischen Sequenzen. Sie verbinden sich im Showdown. Neben einem lodernden Scheiterhaufen findet eine Mord- und Selbstmordapokalypse statt, die einem shakespearschen Königsdrama gleicht. Die schöne Unbekannte aus seinen Träumen gibt Bruno den Revolver, mit dem er sich erschießt. Ein Hoffnungsschimmer bleibt trotzdem. Jean, der überlebt, fängt mit einem Brief aus dem Gefängnis an, über sich nachzudenken. Gerd Hartmann

„Lärm und Wut“ (OmU). 8.-14. April, 22 Uhr, Checkpoint.