Wie der Tod zu Horst Wessel kam

■ Zufall, Legende und Ironie des Schicksals: Heinz Knoblochs neuestes Buch "Der arme Epstein" ist nicht nur die Geschichte eines von den Nazis hingeichteten jüdischen Kommunisten / Aufbau eines Märtyrers

Berlin. Horst Wessel. Was weiß man von ihm? Dem Märtyrer der Nazis, nach dem nicht nur der ganze Bezirk Friedrichshain benannt und dessen Lied zur zweiten Nationalhymne wurde. Der 1930 einem Schuß zum Opfer fiel, nur, wer waren die Täter? Kommunisten? Zuhälter? Dessen Mansardenstube in Friedrichshain zur Gedenkstätte erhoben und dessen Grab bereits 1930 von Goebbels und Göring die Aufwartung gemacht wurde. Der noch hätte leben können, wenn seine SA-Kameraden nicht einem jüdischen Arzt den Zutritt verwehrt hätten. Die Legenden halten sich bis heute.

Mit dem ihm eigenen Gespür für die kleinen Alltäglichkeiten, für die Zufälligkeit, mit der einzelne plötzlich in Geschichte schlittern, hat nun der Ostberliner Erzähler und Feuilletonist Heinz Knobloch die Hintergründe um Wessels Tod zusammengetragen. Sein Augenmerk gilt freilich einem andern. Einem, der zunächst im Hintergrund gestanden hatte, dem nach 1933 aber die ganze Rache der Nazis galt, weil er Jude war, jüdischer Kommunist: Sally Epstein.

Eine „proletarische Abreibung“ endet tödlich

Was geschah wirklich an jenem 14. Januar 1930, an dem Horst Wessel in seinem Mansardenzimmer in der Großen Frankfurter Straße 62 in Friedrichshain angeschossen wurde? Wie es der Zufall wollte, betrat an jenem Abend die junge Witwe Elisabeth Salm eine Kneipe im Berliner Scheunenviertel. Dort tagte gerade die „Zweite Bereitschaft“ des kommunistischen Rot- Front-Kämpfer-Bundes, darunter auch der 22 Jahre alte Sally Epstein. Elisabeth Salm verlangte Beistand von der Gruppe. Gegen ihren Untermieter. Der nämlich ließ seit geraumer Zeit ein Mädchen bei ihm wohnen, ohne dafür, wie von der Witwe gefordert, mehr Miete zu bezahlen. Sein Name: Horst Wessel.

Sofort war den Anwesenden klar: Der muß eine „proletarische Abreibung“ bekommen. Der SA- Emporkömmling, abgebrochener Student mit Charisma und rhetorischer Begabung war den Rotkämpfern seit langem ein Dorn im Auge. Schließlich hatte der mit seinem Nazi-Sturm im Scheunenviertel nicht nur geographisch kommunistisches Territorium betreten, sondern mit seiner Schalmeienkapelle musikalisch obendrein! Die Rotfrontkämpfer holten in der Mulackstraße Verstärkung, darunter auch den späteren Schützen Albrecht (Ali) Höhler, und machten sich auf den Weg. Doch nur drei von ihnen waren dabei, als Wessel seine Zimmertür öffnete, in die Manteltasche griff und, von einem Schuß Höhlers getroffen, zusammenbrach.

„Ein Jude hat unseren Wessel nicht anzurühren“

Bereits kurz nach dem Vorfall begann die Legendenbildung. Am 7. Februar wurde im Berliner Sportpalast erstmals das Lied gesungen, als dessen Urheber Horst Wessel gilt („Die Fahnen hoch, die Reihen fest geschlossen, SA marschiert mit ruhig festem Schritt“). Dessen Melodie reicht freilich bis ins 18. Jahrhundert, und es ist nicht auszuschließen, daß es, Ironie des Schicksals, jüdischen Ursprungs ist. Und die KPD? Die hatte bereits einen Tag nach dem Schuß Elisabeth Salm in die Parteizentrale am Bülowplatz (später Horst- Wessel-Platz, heute Rosa-Luxemburg-Platz) zitiert. Sie solle, so wurde ihr bedeutet, in Sachen Wessel Aussagen, es habe sich um einen Zuhälterstreit gehandelt. Tatsächlich war aber nur der Schütze Höhler im Rotlichtmilieu bekannt. Der Vorgabe entsprechend berichtete die Rote Fahne: „SA-Führer aus Eifersucht umgelegt“. In Wirklichkeit freilich war Wessel zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht tot. Er starb erst sechs Wochen nach dem Schuß, am 23. Februar 1930 an Blutvergiftung. Wohl deshalb, so ein medizinisches Gutachten, weil er in den ersten Stunden nach der Verletzung zuviel Blut verloren hatte. Einem Arzt, der kurze Zeit nach dem Schuß eintraf, wurde von Wessels SA-Kameraden der Zutritt mit den Worten verweigert: „Ein Jude hat unseren Wessel nicht anzurühren.“ Genau sieben Monate nach Wessels Tod begann der Prozeß in Berlin-Moabit. Unter den Verteidigern, allesamt von der KPD gestellt, befand sich auch Hilde Benjamin. Es war der erste große Prozeß der „roten Hilde“, die später als DDR-Justizministerin in Schauprozessen auch vor Todesurteilen nicht zurückschreckte. Höhler wurde des Totschlags angeklagt und für schuldig befunden. Das Urteil 1930: sechs Jahre Zuchthaus, die übrigen Angeklagten bekommen Freiheitsstrafen von sechs Monaten bis sechs Jahren. Sally Epstein, der später wegen Mordes Verurteilte, saß nicht auf der Anklagebank. Er hatte am Abend jenes 14. Januar lediglich an der nächsten Straßenecke Schmiere gestanden.

Hier könnte die Geschichte eigentlich zu Ende sein, das Buch ist jedoch erst zur Hälfte gelesen. Der schlichte Grund: mit der Machtübernahme durch die Nazis wurde auch das Kapitel Horst Wessel neu geschrieben. Das Horst-Wessel- Lied wurde nun, nachdem Hitler persönlich einen neuen Grabstein eingeweiht hatte, höchstoffiziell Bestandteil der deutschen Nationalhymne: „Was bedeutete“, so Knobloch, „daß man beide (Lieder) mit erhobenem Arm durchstehen mußte. (...) Und während mir dabei früher der rechte Arm weh tat, schmerzt es heute woanders.“ Und Sally Epstein, der jüdische Kommunist, wurde verhaftet.

„Nun hatten sie einen Juden vor Gericht“

Der arme Epstein. Einer jener „kleinen Leute“, die bekannt zu machen, sich Heinz Knobloch zur Aufgabe gemacht hat: „Epstein gehört nicht zu den Gläubigen, die in der Levetzowstraße oder Lindenstraße die Synagoge besuchen. (...) Epstein, zwar aus dem Osten eingewandert und im Scheunenviertel wohnhaft, ist kein Ostjude, kein Orthodoxer. (...) Er fand hier Arbeit, gute Menschen und eine Heimat inmitten Gleichgesinnter, die nach einer besseren Ordnung strebten.“ „Nun“, schreibt Knobloch, „hatten sie wenigstens einen Juden vor Gericht.“

Sally Epstein wurde zum Tode verurteilt und, nachdem Hitler persönlich ein Gnadengesuch abgelehnt hatte, am 10. April 1934 in Berlin-Plötzensee durch das Handbeil hingerichtet. Es war das erste Todesurteil gegen einen Juden in Nazideutschland. Einen Gedenkstein gibt es für ihn freilich nicht, ebensowenig wie er in die DDR-offizielle Liste der Naziopfer aufgenommen wurde. Der zweite Mord an Epstein. Einzig seiner Pflegemutter Rosa Lutter ist es zu verdanken, daß Epstein begraben wurde. Auf dem jüdischen Friedhof in Weißensee, zusammen mit 115.000 weiteren Toten, ermordet in den Vernichtungslagern oder im Ersten Weltkrieg für Deutschland gefallen. Während Epsteins Grab unbekannt geblieben ist, ist jenes von Horst Wessel auf dem Friedhof St. Nikolai in der jüngsten Zeit wieder zum Wallfahrtsort für alte und neue Nazis geworden. Horst Wessel, der Märtyrer. „Solche“, so Knobloch, „werden immer benötigt.“ Uwe Rada

Heinz Knobloch: „Der arme Epstein. Wie der Tod zu Horst Wessel kam“. Ch. Links Verlag, Leinen, 224 Seiten, 38 DM