Auf der anderen Seite der Barrikade

Aus der Geschichte der Bundesrepubik ist „1968“ nicht wegzudenken; nach der Vereinigung wirkt es weiter  ■ Von Ernst Nolte

Anfang Juni 1967 schickte mir mein hochgeschätzter Kollege Werner Hofmann einen Studenten mit der Bitte um die Unterzeichnung einer Resolution zum Tode Benno Ohnesorgs ins Haus – damals war ich noch nicht in die „konservative“ Schublade gesteckt worden, der „Faschismus in seiner Epoche“ wurde gerade von den „progressiven Studenten“ viel gelesen, und meines Wissens hatte sich Wolfgang Abendroth 1964 mit Nachdruck für meine Berufung nach Marburg ausgesprochen. Trotzdem habe ich diese Resolution, die gegen „Polizeibrutalität“ protestierte, nicht unterschrieben. Es war bekannt, daß der Schah von Persien bei seinem Besuch in Prag mit großen Ehren und ohne die geringste Störung empfangen worden war, und es gab bereits einige Gründe für den Eindruck, daß die laut und gewaltsam protestierenden Studenten sich anschickten, unter den Termini „Kapitalismus“ und „Imperialismus“ das System grundsätzlich zu bekämpfen, das ihnen – anders als das antikapitalistische System in Prag oder Ostberlin – die Möglichkeit des Protestes gab. Wenige Tage später sollte Jürgen Habermas vom „Linksfaschismus“ sprechen. Meine Studien hatten mir gezeigt, daß Freiheit auch durch einen exzessiven Protest gegen Einschränkungen der Freiheit zugrundegehen kann – eben deshalb konnte Hitler 1921 Beifall finden, als er seine Ordnertruppe gegen „Versammlungsstörer“ vorgehen ließ. So war es mir sehr wahrscheinlich, daß die Studentenbewegung nicht dasjenige war, was sie sein wollte, und daß man sich auf unsicheres Gelände begab, wenn man sie unterstützte, so einleuchtend die unmittelbaren Argumente auch zu sein schienen.

Am Abend des 11. April 1968 besuchte ich zusammen mit meiner Frau eine Theateraufführung in Freiburg. Während der Pause ertönte vom Eingang her plötzlich heftiger Lärm, und junge Männer drangen in den Zuschauerraum ein. In großer Erregung schrien sie die Nachricht vom Attentat gegen Rudi Dutschke hinaus, und sie waren offenbar entschlossen, einen Abbruch der Aufführung herbeizuführen.

Wir zogen einen der jungen Männer ins Gespräch und fragten ihn, weshalb eine kulturelle Veranstaltung verhindert werden solle, da doch der Weg zur Demonstration auf den Straßen offenstehe. Er antwortete: „Wir müssen auf eine Weise demonstrieren, die besonders spürbar ist, denn übers Jahr werden wir alle in den Konzentrationslagern eines faschistischen Staates sitzen.“ Ich zweifelte nicht im geringsten daran, daß dieser Behauptung eine ganz aufrichtige Überzeugung zugrundelag. Aber bis dahin war mir die Selbstsuggestion, von der die Bewegung bestimmt war, noch nie so faßbar geworden.

Als im Herbst 1970 der „Bund Freiheit der Wissenschaft“ gegründet worden war, kündigte ich in Marburg einen Vortrag an, der den Titel hatte „Was ist und was will der Bund Freiheit der Wissenschaft?“. Zu meiner großen Überraschung fanden sich so viele Studenten ein, daß ein Umzug ins Auditorium Maximum nötig wurde und sogar dort der Platz kaum ausreichte. In der ungemein emotionalen Atmosphäre konnte ich den Vortrag gegen das ganz überwiegend feindselige Publikum nur mit größter Mühe zu Ende bringen. Eben war das letzte Wort gesagt, als ein etwa 20jähriger Student auf mich zusprang und mit allen Zeichen des Zorns und der Empörung schrie: „Ihr habt uns 1933 ins KZ gesteckt.“ Unzweideutiger hätte die kollektivistische Denkweise kaum artikuliert werden können, die dem marxistischen Begriff der „Klasse“ ebenso – und ursprünglicher – inhärent ist wie dem NS-Begriff des „Volkes“.

Es gab also schwerwiegende Gründe dafür, daß ich einen Platz „auf der anderen Seite der Barrikade“ wählte. Fehleinschätzung der Umwelt, Autosuggestion, kollektivistisches Überspringen des Konkreten: in all dem erblickte ich noch mehr eine Unwahrheit als eine Gefahr. Aber ich weiß heute besser als damals, daß diese Kennzeichen noch nicht das Ganze der Bewegung ausmachten. Sie trieb sich nur in Teilen zum Terrorismus der RAF, zur Selbstidentifizierung mit der DDR oder zu dem grenzenlosen Fanatismus einiger maoistischer Gruppen fort; der größere Teil machte seinen Frieden mit dem „System“, das sich als ungemein flexibel erwies. Aus der Geschichte der alten Bundesrepublik ist „1968“ nicht wegzudenken, und auch im vereinigten Deutschland sind die Nachwirkungen nicht zu übersehen. Vielleicht konnte diese Wiedervereinigung nur deshalb zustande kommen, weil die Studentenbewegung durch ihre Existenz und durch ihre Aktivität bewiesen hatte, daß ihre Faschismuskonzeption falsch war.

Der Autor ist emeritierter Professor für Geschichte und provozierte den „Historikerstreit“.