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Geh über die Grenze

Zum Doppelgesicht der 68er-Bewegung aus der wechselnden Perspektive eines Friedhofs im Wedding, dem kochenden Auditorium Maximum und den Straßen West-Berlins  ■ Von Antje Vollmer

Auch die öffentliche Meinung ist eine sehr kapriziöse und wankelmütige Liebhaberin. Hätte es noch eines Beweises bedurft, daß geschichtliche Ereignisse selbst den Gesetzen der Relativitätstheorie unterliegen – sie verändern sich nicht nur in ihrer Relativität zum Betrachtenden, sondern auch durch die unterschiedliche Relation von Raum, Zeit und eigener Entfernung vom Ausgangsereignis – die völlig unterschiedliche Wertung der 68er-Bewegung und das Urteil über ihre Protagonisten könnte ein Schulbeispiel dafür sein.

1968 galten die Osterunruhen in Berlin und der Pariser Mai sowie der ihnen vorausgegangene Aufstand der amerikanischen Studenten in Berkeley als Anfang weltweiter revolutionärer Umwälzungen, denen auch im Osten der Prager Frühling und die Kämpfe an der Warschauer Universität entsprachen. Dabei bekamen zumindest die westlichen Studentenbewegungen diesen machtvollen Charakter eher durch die dramatische öffentliche Reaktion, als daß die Beteiligten sich selbst sofort so geschichtsträchtig gefühlt hätten.

Zehn Jahre später, 1978, stand die Beurteilung der Ereignisse in der Bundesrepublik unter dem Eindruck der bleiernen Zeit und des Deutschen Herbstes. Die Aufbruchstimmung, der Hedonismus der ersten Jahre, war verflogen. Politisch beherrschten die Auseinandersetzung mit der RAF, die Ermordung Hanns-Martin Schleyers und die Toten von Stammheim die Atmosphäre. Die Studentenbewegung wurde an allem für schuldig erklärt und interpretierte sich nur noch durch die Brille dieser gewalthaltigen Verfinsterung des politischen Lebens. Wer sich als Kind der Revolte zu erkennen gab, zeigte sich damit fast schon selbst als Sympathisant des Terrorismus an. 1988 war demgegenüber milder und ganz auf Versöhnung gestimmt. Die Grünen waren gerade mit satten 8,3 Prozent zum zweiten Mal in den Deutschen Bundestag eingezogen. Wiewohl sie von den Radikalen von einst wegen ihrer Harmlosigkeit, der ökologischen Ernsthaftigkeit und der mangelnden intellektuellen Faszination belächelt wurden, betrachtete man sich doch gönnerhaft als deren politischer Vorkämpfer in der finsteren westdeutschen Nachkriegswelt.

Fünf Jahre später, im April 1993, sieht alles wieder ganz anders aus: Versagt habe sie, die Generation, die sich weder von der Jugend noch von dem Wohlleben der Toskana verabschieden könne, heißt es. Die Grünen sind nicht mehr im Bundestag, die Enkelgeneration der SPD zeigt sich führungsschwach und von Selbstzweifeln angekränkelt. Die 68er in den Reihen der Konservativen, die es auch gab, sind von Helmut Kohl dezimiert worden. Besonders die konservativen Leitartikler holen mit großem Schwung den Abgesang auf die 68er nach, zu dem sie sich 1982, bei der politischen Wende in Bonn, noch nicht stark genug fühlten. Die historische Genugtuung, die alten Kontrahenten aus der Zeit der kulturellen Hegemonie der Linken endlich auf ihr Mittelmaß reduziert zu sehen, hat einen einzigen Grund: Die 89er haben geholfen und fochten's besser aus. Wenn es auch wie eine Mogelinterpretation erscheint, die demokratische Revolution in der DDR mit der Wiedervereinigung im Gefolge als eine Gegenreformation gegen die Ziele und Werte der westdeutschen Nachkriegsgeneration zu deuten, so werden sie doch im Urteil mancher Zeitgenossen direkt gegeneinander gestellt: die 68er- und die 89er-Bewegung. Zwei Jugendrevolten, zwei Kulturbewegungen, zweierlei Auseinandersetzungen mit deutschen Vergangenheiten. Sie haben miteinander zu tun, wie die verlorenen Königskinder und sollen doch zusammen nicht kommen.

Das schillernde Doppelbild der 68er-Bewegung entsteht nicht nur im nachhinein und nicht nur aus Gründen der jeweiligen Vorlieben oder Vorurteile der Interpreten. Wenn ich meine eigene Erinnerung an diese Zeit wachrufe, so war für mich dieses doppelte Erscheinungsbild von Anfang an da, diese Doppeldeutigkeit von Hoffnungen und Ängsten. Sie war selbst Teil der Faszination und jener Aufbruchstimmung, von der keiner von uns wußte, was sie hervorbringen würde, Kreatives oder Zerstörerisches. Wer damals lebte und an den vielerlei Experimenten zur Welt- und Selbstbefreiung teilnahm, lebte in der Regel mindestens in zwei Welten.

Eigentlich war ich nach Berlin zurückgekommen, um Examen zu machen. Das war im Frühjahr 1967. Zu meinem Glück hatte ich bis dahin schon richtig studiert, ein humanistisches Studium, wie es nur damals möglich war – vagabundierend durch die verschiedenen reizvollen Studienorte, durch die unterschiedlichsten Disziplinen. Freud und Heidegger waren da bunt gemischt, Archäologie und Celans Gedichte nach Auschwitz, Dietrich Bonhoeffer und die französischen Existentialisten, die Göttinger Atompyhysiker und die Heidelberger Bildungsreformer, die Mystiker und natürlich: Bloch und Adorno.

Das Guckloch, aus dem ich mit zunehmendem Interesse auf das anwachsende Brausen im Universitätsgelände blickte, läßt sich leicht beschreiben, denn es war nicht groß: Stube, Küche, Toilette halbe Treppe – letztere wie der Flur freundschaftlich geteilt mit einer alten Dame. Die wiederum war von Zeit zu Zeit genötigt, ihre 20 Quadratmeter zusätzlich mit ihrer Tochter und mehreren Enkelkindern zu belegen, die sich quartalsmäßig vor einen Hausfreund versteckten mußten, der vor unserer gemeinsamen Wohnungstür randalierte. Da saß ich also mitten in dem Lärm und paukte fürs Examen. Es ist schon erstaunlich, wie schnell sich ohne Fernseher die Nachrichten verbreiteten: vom Pudding-Attentat der Kommune 1 auf den US-Vizepräsidenten Humphrey, von der Gründung des Republikanischen Klubs in der Wielandstraße (mit Hans Magnus Enzensberger und Otto Schily), von der geplanten Demo gegen den Schah-Besuch. Ich kannte keinen der Antistars, hatte auch keine Verbindungen mehr zum SDS. Gelegentlich war ich auf einer Versammlung der Studenten, aber selten und immer auf dem Sprung zurück zu meinen Büchern.

Geh über die Grenze

Drüben steht einer, der sagt:

Geh über die Grenze.

(Sascha Anderson)

...diese Aufforderung zum permanenten Standortwechsel habe ich in diesen Zeiten der beginnenden Studentenbewegung oft gehört. Die beiden Lebenswelten drifteten auseinander und immer schwieriger war es, die wachsenden Entfernungen zu überwinden. Auf der einen Seite die Endphase des Examens mit der bürgerlichen Perspektive einer Pfarrstelle in einer Berliner Gemeinde, auf der anderen Seite die Studentenbewegung, die sich zunehmend radikalisierte seit diesem 2. Juni. Die größere Faszination ging zweifellos von dem aus, was an der Uni geschah. Es waren Selbstexperimente, es waren Eroberungen neuer geistiger Kontinente, Pionierzeiten. Auf eine – zunächst verbotene – Demo zu gehen und zu spüren, wie die Angst nachläßt, war Nervenkitzel und Lebensfreude. Mit Raubdrucken holten wir uns das Wissen zurück, das man uns vorenthalten hatte. Da wurde auch die Marx- Schulung zum intellektuellen Abenteuer. Was verboten ist, das macht uns gerade scharf, wußte Wolf Biermann.

Die Kommune 1 entwickelte geradezu eine Meisterschaft in Kreativität und Situationskomik. Vorne im Saal diskutierten lautstark, wortgewandt und aufs heftigste entschlossen die Theorieträger der Bewegung, und hinten schob sich – immer verspätet, immer bunt – ein Pulk von Witz und Gelächter in die Versammlung und machte, daß sich alle Köpfe drehten. Ich konnte beides gut überblicken, ich befand mich immer dazwischen. Meistens saß ich auf der Treppe des Hörsaals oder lehnte seitwärts am Geländer, in einer blauen Wolljacke, die Hände seitwärts in die Taschen geschoben. Nie hätte ich mich getraut mitzudiskutieren. Der Leistungsdruck in bezug auf rhetorische Brillanz, aggressive Gestik, Wortspiele und Demagogie war enorm.

Es war nicht immer lustig, zuzusehen und zuzuhören. Es gab auch Szenen, vor allem auf den Institutsversammlungen, die richtig unangenehm waren. Ich habe gestandene Professoren schweißgebadet und extrem verunsichert gesehen, nach Worten ringend und unfähig, die Situation zu begreifen. Je fahriger sie wurden, um so mutiger wurden ihre Peiniger, um so johlender das Publikum. Es war wie ein Fight ohne Spielregeln. Nicht immer war die Heiserkeit der Diskutanten durch heiligen Zorn geadelt, und gelegentlich kam ich mir wie eine Voyeurin bei einem Vorgang vor, der Grenzen überschritt, die nicht nur störend gewesen waren. Andere Hochschullehrer – Professorinnen gab es kaum – ließen sich als Unterstützer der studentischen Anliegen feiern und waren doch nur ein bißchen zu feige für eine ernsthafte Auseinandersetzung. Es war in dieser Zeit, daß Jürgen Habermas erregt in einer Diskussion ausrief: „Es gibt auch linken Faschismus!“ Das war natürlich unerhört und eine einzige Provokation und verbreitete sich wie ein Lauffeuer durch alle Universitäten. Die Tatsache aber, daß dieser Ausspruch bis heute tradiert wird, hat auch damit zu tun, daß von seiten der damals ganz Erwachsenen ernsthafter Widerspruch in den Redeschlachten rar war. Wir hatten leichte Erfolge, die alte Ordinarien-Universität brach wie ein Kartenhaus zusammen. Weit und breit war keine Simone de Beauvoir und kein Sartre zu sehen, von denen wir uns etwas hätten sagen lassen.

Im März 1968 schrieb ich meine Klausuren. Am 11. April, Gründonnerstag, lag Rudi Dutschke angeschossen auf dem Straßenpflaster, neben ihm ein verbogenes Fahrrad und ein einsamer Schuh. Er hatte in der Apotheke etwas für seinen Sohn Hosea Che besorgen wollen. Eine Woche später, am 22. und 23. April, bestand ich im Evangelischen Konsistorium in der Jebensstraße meine mündliche Prüfung. Ich wurde damit Vikarin der Berliner Landeskirche. Im August desselben Jahres marschierten die Truppen des Warschauer Paktes in Prag ein. Revolutionen finden meist im Winter statt, Konterrevolutionen im Sommer.

Drei Jahre später. Keine Berliner Synode ohne Kritische Synode, die Kirchenopposition oben auf der Empore. „Hinein in die Hinterhöfe mit unseren jungen Pastoren“, sagte ein grauhaariger Superintendent unten am Mikrofon. Wir lachten uns halb kaputt und schickten von oben ein fröhliches „Weg mit den Hinterhöfen!“ hinunter zur Versammlung.

Aber angezogen haben sie uns doch, die Hinterhöfe. Das Predigerseminar hatten wir abgeschafft, die alten Rituale auch. Eine Art Vikars-Gewerkschaft innerhalb der ÖTV war längst gegründet und auch ein Vietnam-Ausschuß kirchlicher Mitarbeiter. Alles wollten wir aus der Praxis lernen, und je dichter diese Praxis an den Hinterhöfen war, um so besser. So landeten wir denn mit einem Team von vier Sozialarbeitern und TheologInnen in Berlin-Wedding, Chausseestraße, dicht an der Mauer. Wir suchten, sozialistisch- romantisch wie wir waren, den Roten Wedding – und fanden ihn nicht mehr.

Eine Kirche gab es in dieser Pfarrgemeinde damals noch nicht. Die alten Backsteinkirche, vom Kaiser seinen Weddinger Arbeitern nicht ohne sozialpädagogische Absicht spendiert, war im Krieg mitzerbombt worden, als man Schering treffen wollte. Wir hatten einen Friedhof und eine Friedhofskapelle. Die einzige Räumlichkeit, die wir zur Verfügung hatten für unseren Tatendrang, war ein Raumungetüm im schon genannten ersten Hinterhof, 1. Stock: zirka acht Meter lang und drei Meter breit – gerade ausreichend Platz, um einen langen Tisch mit Stühlen und an der Wand das dazu passende Bild von Jesu letztem Abendmahl aufzunehmen. In diesem Raum traf sich außer dem spärlichen Konfirmandenhäufchen einmal die Woche eine kleine Gruppe älterer Frauen, die abwechselnd „Bibelstunde“ oder „Frauenkreis“ genannt wurde. Alle hatten – teilweise schon in zweiter Folge – ihre Grabstätte bereits bezahlt und besaßen detaillierte Vorstellungen von der gewünschten Zeremonie. Es war unglaublich. Es gibt im Leben eines jungen Menschen nichts, das an Ernüchterung einem solchen Praxisschock gleichkäme. Es gab Wochen, in denen ich vom Friedhof gar nicht herunterkam. Dagegen bauten wir dann Stück für Stück eine andere Arbeit auf, kümmerten uns um die Sanierungspläne – unsere Gemeindemitglieder wurden scharenweise ins Märkische Viertel verschoben –, setzten uns mit Rockern auseinander, suchten einige Konfirmanden auf dem Bahnhof Zoo, zogen Kindern die Schnüffeltüten vom Gesicht, statteten Schering und AEG Besuche ab. Es war eine vollkommen irreale Welt, so weit ab von der bundesdeutschen Normalität wie Kamerun oder Bitterfeld.

Das andere Leben, der studentische Protest, hatte sich damals auch von der Uni im gutbürgerlichen Dahlem in die anderen Stadtteile verlagert. Die „proletarische Linke“ kabbelte sich mit der KPD- Aufbau-Organisation, beide schickten ihre hoffnungsfrohen Intellektuellen in die Fabriken oder nahmen ihnen wenigstens Erbschaften und Sparverträge ab. Demonstriert wurde viel, mit wehenden roten Fahnen, Liedern aus dem spanischen Bürgerkrieg und Agitprop-Trupps. Die Komiker von der Kommune 1 waren längst nicht mehr lustig und hatten schon reichliche Knasterfahrungen.

Luigi Pintor, geboren 1925, KP- Dissident und Mitbegründer der Tageszeitung Manifesto, hat über die Anfänge der Studenten-Revolte geschrieben: „Für einen wie mich sind es neidvolle Tage. Diese Generation der Söhne und Töchter geht unbeschwerter durchs Leben, die Frauen sind sehr schön, alle tragen seltsame Kleider und schlafen seelenruhig in den Klassenräumen, bei deren Betreten wir noch vor Angst schlotterten. Sie sprechen eine primitive Sprache, reden dafür aber ununterbrochen, was wir nie gewagt hätten und sind davon überzeugt, auch das zu wissen, wovon sie nicht die geringste Ahnung haben. Arbeiter ziehen auf ihren Demonstrationen mit Blechtrommeln durch die Straßen. Viele Herrschaften, die in prächtigen Häusern wohnen und auf renommierten Lehrstühlen sitzen, sehen sich ihrem Spott ausgeliefert. Vielleicht sind das alles nur vergängliche Siege, aber die Generation der Mütter und Väter mit ihrem Krieg, ihren Träumen und ihren Sorgen hat solche Erfahrung nie gemacht.“

Es ist zu vermuten, daß sich das historische Urteil über die 68er Jahre noch oft ändern wird, nicht nur durch das wachsende Alter aller Beteiligten. Solche Bilder haben immer auch mit Macht zu tun. Der Grundkonflikt zwischen einem hedonistischen, romantischen, hochfliegendenn Lebensentwurf auf der einen und einem pflichtbetonten, soldatischen, nüchternen Lebensmodell auf der anderen Seite durchzieht die Geschichte und den spezifischen deutschen Generationskonflikt der ganzen Nachkriegszeit – modellhaft vorgeführt im ewigen Kampf zwischen Willy Brandt und Herbert Wehner. Machtpolitisch haben die Hedonisten meist verloren. Aber sie haben intensiver gelebt.

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