Dutschke, Springer und die taz

Das „Prinzip Springer“ lenkte die Wut potentieller Attentäter auf den Rebellen Rudi Dutschke  ■ Von Bernd Rabehl

Die tageszeitung gibt am 11. April 1993, exakt 25 Jahre nach dem Attentat auf Rudi Dutschke, ihrem Sitz in der Kochstraße in Berlin-Kreuzberg den Namen Rudi-Dutschke-Haus. Diese Namensgebung verfolgt ganz offensichtlich das Ziel, an die Anti- Springer-Aktion der Apo in den sechziger Jahren zu erinnern. Die taz will mit der Erinnerung an Rudi Dutschke den Springer-Konzern auf der anderen Straßenseite provozieren und einen Anstoß geben, über das Prinzip Springer nachzudenken. Der Springer-Konzern, der nur ein paar Hundert Meter entfernt sein Imperium aufgebaut hat, besitzt heute allerdings in Berlin nicht mehr die Machtposition der damaligen Zeit. Es ist deshalb anzunehmen, die taz will auch darauf hinweisen, daß das Prinzip Springer mittlerweile nahezu alle modernen Medien erfaßt hat.

Ich will die Gelegenheit nutzen, um ein paar Gedanken und Ideen von Rudi Dutschke vorzustellen, die sich auf den Manipulationscharakter der modernen Medien beziehen. In der „Subversiven Aktion“ und in der „Viva-Maria- Gruppe“ innerhalb des SDS kam Dutschke in Berührung mit einer Perspektive von Kritik, die sich primär auf intuitive Inspirationen bezog. Die logischen Konsequenzen Hegelscher oder Marxscher Theorien wurden abgelehnt, weil hier zu stark die Produktionsverhältnisse den Überbau, Ideologie und Kultur festlegten. Nach der ästhetisch motivierten Kulturkritik gewannen Ideologie, Propaganda, Reklame einen eigenständigen Stellenwert gegenüber dem produktiven Bereich. Diese Verselbständigung des Ideologischen, die von den Medien umgesetzt wurde, wurde als „Proponismus“ bezeichnet. Die Medien übernahmen Übersetzungsarbeit, indem sie bestimmte Werte, Personen, Situationen, Sensationen aufbereiteten, die den Alltagssorgen bzw. dem Lebensbild der Leser oder Zuschauer folgten. So entstanden Bestätigungen und Identifizierungen der Menschen mit den bestehenden Verhältnissen. Ihre Lebensrealität wurde noch einmal abgebildet, jedoch gereinigt von allen Ungereimtheiten und festgelegt auf die gesellschaftliche Ordnung und ihren Repräsentanten. Die Medien schufen eine eigenartige Verdoppelung von Wirklichkeit, die durch die Mithilfe kaum noch Konflikte barg. Die Konsumenten verloren die Distanz und die Kritikfähigkeit. Sie wurden auf eine bestimmte Lebens- und Konsumhaltung trainiert.

Goebbels hatte diesen Reduktionismus von Darstellung und Information nach 1933 perfektioniert. Nicht die große Propagandashow mit Partei und Führer war die Grundlage der NS-Ideologie, sondern der unpolitische Liebesfilm, die Sportreportage, das Abenteuer wurden in den Vordergrund gerückt. Hier wurden die Sehnsüchte und Wünsche der einfachen Frauen und Männer aufgenommen und in den Liebestraum, in den sportlichen Wettkampf oder in das Heldenstück projiziert und die Erbärmlichkeit der eigenen Existenz in den Traum vom großen Glück verflüchtigt. Bestätigung und Verdrängung wurden die Hauptmittel der Propaganda.

Nach 1945 hatte der vormalige Mitarbeiter des Goebbels-Ministeriums, Axel Cäsar Springer, diese Neuformung der NS-Propaganda übernommen und in seinen Zeitungen und Illustrierten zum Prinzip Springer erhoben. Jetzt rückte die politische Konstellation des Kalten Krieges und der Wertmaßstab der Mittelklassen in den Mittelpunkt. Sie wurden modifiziert und erweitert durch die Symbole und Signale der Werbung. Propaganda wurde entschärft, verlor die Leitfiguren und Autoritäten einer Identifizierung und wurde verflüchtigt in die Belanglosigkeit von Reklame. Es fehlte die Auseinandersetzung. Die Berichterstattung und die Informationen wurden auf ein Minimum reduziert. Die Bestätigung des Alltags wurde noch weiter vereinfacht in die Reproduktion von Gefühlen und Haltungen.

Propaganda wurde entpolitisiert und als Reklame politisiert, denn die Konsumenten erlebten in den Medien sich selbst, ihre Art zu verbrauchen, zu lieben, zu essen und zu trinken, und ihr Umgang mit der Zeitung wurde zu einem quasi religiösen Ritual, das keinen Platz mehr hatte für Kritik oder Streit.

Die Linke innerhalb des SDS hatte sich Springer zum Gegner erkoren, weil der die Symbolfigur für Manipulation und die Denunziation liberaler und linker Meinungen in Westberlin und der Bundesrepublik geworden war. In der Berichterstattung der Zeitungen dieses Konzerns über Vietnam oder über die politischen Ereignisse in Europa wurden Informationen weitgehend ersetzt durch Aufrufe zur Identifizierung mit den Werten und Persönlichkeiten der westlichen Welt. Die Linke gehörte als Außenseiter dieser Gesellschaft bereits zum Feindbild.

Dutschke als der Fremde

Die Kampagne einer entstehenden, außerparlamentarischen Opposition gegen Springer sollte gleichzeitig die ideologische und ökonomische Macht dieses Konzerns aufdecken. Sie geriet sofort in eine eigenartige Spannung. Die Konkurrenten von Springer, etwa Gerd Bucerius und Rudolf Augstein, wollten diese Kampagne nutzen, um die Wirtschaftsmacht des Konzerns zu schädigen, um ihre eigenen Verlage auszubauen und in West-Berlin eine eigene Tageszeitung zu starten. Den Sozialisten innerhalb der Anti-Springer-Aktion war daran gelegen, über den Konzern und über das Meinungsmonopol aufzuklären. Das Prinzip Springer in der Manipulation war beiden Gruppen unbekannt oder ohne Bedeutung. Dutschke, der selbst früher, noch zu Zeiten, als er in der DDR lebte, Journalist werden wollte und 1962 kurzfristig und aushilfsweise bei Springers BZ als Sportreporter gearbeitet hatte, interessierte sich für die Mechanismen und Wirkungsweisen der Manipulation. Er suchte nach Aktionsformen der Provokation, die dieses Netz einer Fremdbestimmung der Leser aufbrechen konnten. Er selbst geriet sehr schnell in das Fadenkreuz der Denunziation der Springer-Zeitungen. Die Ausgrenzung aus der Konsum- und Lebensgemeinschaft der guten Deutschen wurde rasant vollzogen. Die Motive seines Handelns und die Zielsetzungen seines Denkens interessierten nicht.

Genauso wenig war von Belang, daß er zu den Abhauern aus der DDR gehörte und gleichsam radikal den realen Kapitalismus und den wirklichen Sozialismus kritisierte. Die Springer-Schreiber orientierten sich an seinem Äußeren. Sein dunkler, üppiger Haarschopf, sein fast immer unrasiertes Gesicht, sein stechender Blick, seine rauhe Stimme, seine Syntax, der Singsang seiner Sätze, der dunkle Pullover interessierten. Der Vokal „U“ wurde mit all seinen geheimnisvollen Beziehungen ausgeschöpft. Die Journalisten suggerierten bei Dutschke ihren Lesern Fremdartigkeit. Sie entdeckten an ihm das Dämonische und Fanatische. Er wurde sofort ausgegrenzt und verfremdet. Er schien Düsteres zu bergen oder Verhängnisvolles im Schilde zu führen. Er gewann schon bei den ersten Reportagen die Konturen des Außenseiters, des Fremden und des Feindes, dem keinerlei Sympathie entgegengebracht werden sollte und der nur Haß erfahren mußte. Die Reporter zeichneten die Feindfigur des „Ewigen Juden“. Eine solche Umsetzung von Information störte nicht die Freundschaft mit Israel, die der Verleger propagierte. Dutschke erinnerte nicht an Deutsches, sondern Düsternis, Dunkelheit, Unheil wurden suggeriert. Das Prinzip Springer lenkte die Wut potentieller Attentäter auf den Rebellen Dutschke.

Dutschke und das Nationale

Das Springer-Prinzip zu entlarven, hieß für Dutschke, Komplizenschaften aufzudecken. Die Machtkonstellation von 1945, nach der Niederlage des Nationalsozialismus, bedeutete für Dutschke die Besetzung und die politische Festlegung der beiden Deutschlands durch die jeweiligen Großmächte. Ein Kampf für die nationale Befreiung in der DDR und in der Bundesrepublik vermochte nach seiner Überzeugung die Fremdbestimmung und Unterwerfung der politischen Klassen in beiden Gesellschaften offenzulegen. Dutschke übertrug die Konzeption der nationalen Befreiung Algeriens oder Vietnams auf die beiden Deutschlands, denn über sie sollten die Werte einer sozialistischen und emanzipativen Gesellschaft zurückgewonnen werden. Die Festlegung des Nationalen durch die Rechte war Dutschke kein Problem, denn er lehnte nationale oder völkische Traditionen ab. Im nationalen Befreiungskampf wurde in den Auseinandersetzungen mit den beiden Gesellschaftstypen von Kapitalismus und Sozialismus die Zielsetzung der sozialen Emanzipation neu entdeckt und politisch umgesetzt. In den Aktionen, Bewegung, Verweigerung, die diesem Ziel unterstellt waren, konnten alle Elemente der Manipulation überwunden werden. Nur in diesem Zusammenhang konnte das Denken zur Realität vorstoßen, neue Werte und Prinzipien setzen und sich befreien von der manipulativen Fesselung. Die Zerschlagung des Springer-Konzerns war eine Voraussetzung für die Befreiung des Denkens.

Der Triumph der Manipulation

Die Springer-Kampagne scheiterte an inneren Widersprüchen. Die Konkurrenten von Springer zogen sich zurück. Ein großer Teil der Linksintelligenz sagte die Teilnahme an einem Tribunal ab. Den verschiedenen Schattierungen von Sozialisten blieb das Thema Manipulation genauso fremd wie das Problem der nationalen Befreiung für Deutschland. Nach dem Attentat auf Dutschke, Ostern 1968, wurden mehr in Verzweiflung Anti-Springer-Aktionen improvisiert, die primär Blockaden der Auslieferung der Zeitungen, Demonstrationen, Auseinandersetzungen mit der Polizei blieben. Eine Bestandsaufnahme all der Anti-Springer- Aktivitäten wurde nicht gemacht. Die entstehende „Gegenöffentlichkeit“ war eher Imitation der Arbeiteragitation von KPD und SPD aus den zwanziger Jahren.

Heute an Dutschke zu erinnern, soll nicht so sehr bedeuten, das Problem der nationalen Befreiung zu aktualisieren. Es soll in erster Linie darauf verwiesen werden, daß die Manipulation durch das Medium Farbfernsehen an Faszination gewonnen hat. Die zweite und manipulative Realität ersetzt immer mehr Wirklichkeit, und sie wird zum letzten Feld der Erfahrung. Die unbewußte Identifizierung mit Spiel, Gewalt, Moden geht so weit, daß den Menschen die Fähigkeit zum Denken genommen wird. Und dagegen ist anzugehen, heute ebenso wie 1968.

Der Autor, 1938 in Rathenow geboren, war Ende der sechziger Jahre Mitglied des Bundesvorstands des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes, SDS. Er ist heute Professor für Soziologie und forscht an der Freien Universität Berlin über den SED-Staat.